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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet
Autoren: Eliot Pattison
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mit Gerede über irgendwelche Gefahren kam, über Mörder oder Ausländer, die in den Hügeln umgingen. Vor seinem inneren Auge ließ Shan die Reaktion des Lama auf den toten Atso Revue passieren. Gendun hatte beim Anblick der Leiche weder überrascht gewirkt noch sein Mitgefühl zum Ausdruck gebracht, sondern statt dessen Worte der Freude geäußert.
    »Rinpoche, ich verstehe nicht, was vor sich geht«, sagte Shan schließlich und sprach Gendun damit als ehrwürdigen Lehrer an.
    »Wir weihen heute nicht nur den Schrein«, verkündete Gendun. »Wir erneuern die Weihe des gompa . Zhoka wird zu neuem Leben erwachen. Surya wird sich dauerhaft hier niederlassen.«
    In Shans Magen breitete sich ein eisiges Gefühl aus. Surya und Gendun begriffen nicht, wie tyrannisch und rachsüchtig das Büro für Religiöse Angelegenheiten vorging, dem jeder Mönch ohne staatliche Lizenz als Verbrecher galt. Sie hatten nie Oberst Tan kennengelernt, der nach eigenem Ermessen und ohne Gerichtsverhandlung entscheiden konnte, Mönche ins Arbeitslager zu stecken.
    Als Shan erneut Gendun ansah, verspürte er plötzlich tiefe Traurigkeit. Dies war die Weise, auf die Tibeter sich verteidigten: Sie setzten jeder noch so erdrückenden Übermacht lediglich eine tugendhafte Haltung entgegen. Beim Einmarsch der chinesischen Invasoren waren Tausende von Tibetern mit Musketen und Schwertern, manche gar nur mit Gebeten gegen Maschinengewehre angerannt. Hierher nach Zhoka zu kommen war Suryas Art, das gleiche zu tun. »Lha gyal lo« , stellte Shan entmutigt fest.
    Der alte Lama nickte versonnen.
    »Warum gerade jetzt?« fragte Shan.
    Gendun wies mit ausholender Geste auf die Ruinen. »Zhoka war einst ein sehr bedeutender Ort, an dem große Wunder geschahen. Es gibt hier viel, das neu gelernt und wiederhergestellt werden muß.«
    Shan ließ den Blick über das verlassene gompa schweifen. Die tiefe Senke, in der man das Kloster errichtet hatte, maß an der Sohle mehr als vierhundertfünfzig Meter im Durchmesser, und die Ruinen erstreckten sich weit die Hänge hinauf. Viele der früheren Hof- oder Garteneinfassungen und sogar einige der Hauswände standen noch, wenngleich keine unversehrt geblieben war. Eine riesige Mauer, die offenbar zu einer Versammlungshalle gehört hatte, erhob sich fast sechs Meter in die Höhe und wies genau in der Mitte ein gezacktes, knapp zwei Meter breites Loch auf. Aus anderen, bedrohlich schiefen Wänden ragten verkohlte Bodendielen und Dachbalken. Shan wußte nur wenig über Zhoka, außer daß es berühmt für seine Künstler gewesen war. Etliche der Mauerfragmente trugen die Reste von Gemälden auf sich, so wie das halbe Abbild eines Rehs, das Surya in der Hand gehalten hatte. Von allen Mönchen Yerpaswar er der vollendetste Künstler und hatte nicht nur prächtige thangkas geschaffen, traditionelle tibetische Stoffgemälde, sondern die Einsiedelei zudem mit zahlreichen Wandmalereien geschmückt. Surya bringe auf diese Weise seine Gebete zum Ausdruck, hatte Lokesh einmal gesagt. Nun aber schickte Gendun ihn an einen Ort, an dem alle Kunst erstorben war.
    Schweigend saßen sie da und lauschten dem fernen Kehlgesang.
    »Was wirst du all diesen Menschen sagen, die noch nie in einem Tempel gewesen sind und vor lauter Angst nicht gewagt haben, einen Mönch auch nur anzusprechen?« fragte Shan. Es war ein gemeinsames Mittagsmahl geplant, und Gendun wollte bei dieser Gelegenheit eine kurze Rede halten.
    Der Lama lächelte. »Wir werden ihnen beibringen, sich mit offenen Augen fallen zu lassen.« Er spielte auf einen der alten verschlüsselten Lehrsätze an, die Shan seit den ersten Tagen in Yerpa kannte. Was ist das menschliche Leben? fragte der Schüler. Sehenden Auges in einen Brunnen zu stürzen, erwiderte der Meister. Mochten diese Worte auch zunächst befremdlich wirken, so hatte Shan doch im Laufe der Zeit erkannt, daß sie das Dasein der Bewohner Yerpas perfekt umschrieben. Die Seele durchwandere während ihrer Entwicklung viele Lebensformen und könne erst nach tausend früheren Inkarnationen auf eine flüchtige Existenz als Mensch hoffen, hatte Surya damals zu Shan gesagt. Das Leben war so kurz und die menschliche Inkarnation dermaßen kostbar, daß die Einsiedler von Yerpa sich unablässig der geistigen Bereicherung widmeten, und zwar nicht nur mittels ihrer religiösen Unterweisungen, sondern auch durch die Erschaffung wunderbarer Kunstwerke: Sie illustrierten Manuskripte, verfaßten Historien und ersannen Gedichte.
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