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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet
Autoren: Eliot Pattison
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war ein traditioneller Ausdruck der Freude, aber die Regierung hatte den Tibetern bei Strafe verboten, es ausgerechnet an jenem besonderen Datum zu tun, dem Geburtstag des im Exil lebenden Dalai Lama.
    »Lha gyal lo!« rief Lokesh gen Himmel. »Den Göttern der Sieg!«
    Die Frau hielt inne und schaute über Shans Schulter. Er drehte sich um und sah, daß das Mädchen hinter ihnen stand und sehr besorgt wirkte. Die Tante der Kleinen warf über ihr eine Handvoll Mehl in die Höhe, aber das Kind wich vor der Wolke zurück, als habe es Angst davor.
    Als die Frau dies bemerkte, verschwand ihre Ausgelassenheit. Sie bedeutete dem Mädchen, es solle sich wieder Surya und dem jüngeren Sänger zuwenden, doch als Shan sich ein Stück entfernte, ging die Kleine ihm hinterher. Er setzte sich auf einen Felsen, und nach kurzem Zögern nahm das Mädchen neben ihm Platz.
    »Ist es in Ordnung?« fragte sie ihn zaghaft. Sie hatte zur chinesischen Sprache gewechselt.
    »In Ordnung?« entgegnete Shan auf tibetisch.
    »Dürfen die Leute so etwas tun?«
    Auf einmal brachte Shan es nicht mehr fertig, dem Kind ins Gesicht zu sehen. Als er nicht antwortete, fing die Kleine an, sich nervös den Mehlstaub von den Wangen zu wischen.
    Er streckte die Hand aus und hielt sie sanft davon ab. »Die Leute brauchen mich nicht um Erlaubnis zu fragen.«
    »Du bist Chinese.«
    Shan mußte an einen Tag vor mehr als fünf Jahren denken.Die Soldaten hatten ihn im Straflager bei Lhadrung von der Ladefläche eines Lastwagens geworfen. Er hatte bäuchlings und halb bewußtlos im kalten Schlamm gelegen, ohne zu wissen, wo er sich überhaupt befand. Sein Ohr hatte geblutet, und an Armen und Leib hatte er immer noch den stechenden Schmerz der Elektroschocks verspürt, während er als Folge der Verhördrogen nur verschwommen sehen und keinen klaren Gedanken fassen konnte. »Von diesem Tag an wird dein Leid immer mehr abklingen«, hatte plötzlich eine ruhige Stimme geflüstert. Unter großer Anstrengung hatte Shan die Augen geöffnet und das heitere Gesicht eines alten Tibeters erblickt, der, wie Shan bald erfuhr, ein Lama im vierten Jahrzehnt der Gefangenschaft war. »Es wird in deinem Leben nie mehr so schlimm sein wie jetzt«, hatte der Lama erklärt und Shan auf die Beine geholfen. Doch im Verlauf der fast anderthalb Jahre seit seiner Freilassung hatte Shan einen neuen Schmerz entdeckt, gegen den sogar die Lamas machtlos waren: ein quälendes Schuldgefühl, das durch die arglose Frage eines kleinen Mädchens ausgelöst werden konnte.
    »Ich wünschte, der Dalai Lama wäre bei seinem Volk«, sagte Shan nahezu flüsternd. »Und ich wünsche ihm ein langes Leben.«
    »Bist du etwa Buddhist?«
    Jemand hielt Shan eine Schale Buttertee vor die Nase.
    »So etwas in der Art.« Lokesh lachte leise, hockte sich vor den beiden hin und trank einen Schluck aus einer zweiten Schale. »Als ich noch klein war«, fuhr der alte Tibeter fort und sah dabei feierlich das Mädchen an, »hat meine Mutter mich oft weit ins Gebirge mitgenommen und mir alte Hängebrücken über tiefen Schluchten gezeigt. Die Brücken stellten unsere Verbindung zur Außenwelt dar. Niemand wußte, wie sie beschaffen waren oder wodurch sie noch immer hielten. Sie sahen aus, als könne man sie gar nicht bauen. Immer wenn ich meine Mutter danach fragte, antwortete sie, die Brücken seien einfach da, weil wir sie brauchten. Und so ist es auch bei unserem Shan.«
    »Aber ist es in Ordnung?« fragte sie erneut mit ihrer sanftmütigen, ernsten Kinderstimme.
    »Wie heißt du?« fragte Shan.
    »Dawa. Mein Vater arbeitet in einer chinesischen Fabrik«, versicherte sie eilig. »Er hat das ganze Jahr gespart, um mich herschicken zu können. Das Geld hat nur für meine Busfahrkarte gereicht. Ich war bisher noch nie außerhalb der Stadt.« Shan sah Lokesh an. Hört dem kleinen Mädchen zu, hatte Surya sie ermahnt. Doch Dawa hielt sich zum erstenmal in Tibet auf.
    »Dawa, ich möchte, daß es in Ordnung ist. Du auch?« Hatte Surya andeuten wollen, daß sie die merkwürdigen Ereignisse dieses Tages nur dann begreifen konnten, wenn sie die Vorfälle von der Warte eines Außenstehenden betrachteten? überlegte Shan.
    Das Mädchen nickte schüchtern und sah Shan dabei durchdringend an. »Wie kann ein Chinese so etwas sein?« fragte sie. »Eine Brücke, meine ich. Will er sagen, daß du zum Teil Tibeter bist?«
    »Ich wurde von anderen Chinesen ins Gefängnis gesteckt, und zwar nicht wegen eines Verbrechens, sondern weil
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