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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet
Autoren: Eliot Pattison
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ebenfalls kaum Bedeutung beimessen. Ihnen kam es darauf an, daß Shan einen Monat in völliger Abgeschiedenheit zubrachte.
    »Falls diese Soldaten wütend werden, brennen sie unsere Häuser nieder und töten unser Vieh«, knurrte der riesige Hirte.
    Liya stellte sich neben Lokesh schützend vor Shan. »Wir würden Shan genausowenig im Stich lassen wie einen dieser Mönche hier«, verkündete sie entschlossen.
    »Du begreifst gar nichts!« schrie der Narbengesichtige sie wutentbrannt an. »Ihr habt uns vorher nichts von euren Absichten erzählt. Dies ist die falsche Zeit für Mönche und Feiern. Wie kann man nur so naiv sein? Ihr habt den Leuten falsche Hoffnungen gemacht und sie hergelockt! Um uns vor den Soldaten zu schützen, bleibt uns nun gar keine andere Wahl, als Shan aufzugeben.«
    Jaras Frau tauchte auf. Sie hielt zwei der Kinder bei den Händen und sah ihren Mann durchdringend und fragend an. Jara trat einen Schritt vor, blickte dann hinunter auf seine Brust und schien überrascht festzustellen, daß er eine Hand fest um sein gau geschlossen hatte. Langsam hob er den Kopf, betrachtete Lokesh und seine Söhne, drehte sich um und ließ sich mit übergeschlagenen Beinen vor Gendun nieder. Zwei andere Tibeter, zähe Männer mittleren Alters mit harten, verkniffenen Mienen, drängten sich an Jaras Frau vorbei, gesellten sich zu dem großen Hirten und musterten Shan mit gierigen Blicken. Die Frau schien nichts davon zu registrieren. Sie starrte verwundert ihren Ehemann an, der auch jetzt noch das gau umklammert hielt, und allmählich kehrte der freudige Ausdruck auf ihr Antlitz zurück.
    »Hundert Dollar!« rief der Narbige. »Die wollen ihn ins Gefängnis stecken!« Der Mann wandte sich zu den anderen um.»Wann hatten wir schon jemals die Gelegenheit, einen Chinesen hinter Gitter zu bringen?« schnaubte er verächtlich. »Auf diese Weise hätten wir heute am Ende doch noch etwas zu feiern!«
    »Nein!« fuhr Liya ihn an. »Er ist einer von uns! Er steht unter dem Schutz meines Clans!«
    »Ihr könnt nach Süden laufen und euch verstecken, wenn es gefährlich wird«, gab der Hirte zurück. »Für euch ist es einfach, kurzfristig hier aufzutauchen und wieder zu verschwinden. Wir können uns nicht verstecken. Wir müssen hier leben. Atso wurde ermordet. Ist das nicht Warnung genug? Wir müssen die Chinesen und ihre Gottestöter loswerden.« Er wies dabei auf die Mönche.
    Shan rührte sich nicht von der Stelle. Er spürte, daß Liya sich anspannte, als wolle sie sich auf den Mann stürzen. Statt dessen jedoch packte sie Shans Arm, wie um die anderen davon abzuhalten, ihn wegzuzerren.
    »Atso wurde nicht ermordet«, sagte Shan. »Es war ein Unfall.«
    »Das kannst du doch gar nicht wissen«, widersprach der Hirte.
    »Doch. Atso hat es uns mitgeteilt.«
    Die Miene des Mannes verfinsterte sich. »Bei uns macht man sich nicht über die Toten lustig.«
    »Und die Wahrheit? Ist euch die etwa gleichgültig?« fragte Shan ruhig und ließ den Blick über die Tibeter schweifen. »Warum hat Atso am Fuß dieser Klippe gelegen?«
    »Weil die Gottestöter ihn dort überrascht und erschlagen haben, nur dreißig Meter von seiner Hütte entfernt.«
    »Seine Stiefel waren mit Jute umwickelt, aber die Sohlen hatten sich gar nicht gelöst. Seine Hände waren zerkratzt und verletzt.«
    »Er hat sich gewehrt«, sagte der Hirte. »Wahrscheinlich hat man die kleine Tara direkt vor seinen Augen zertrümmert, um ihn zu quälen.«
    »Nein«, sagte Shan. »Die Figur wurde bei einer anderen Gelegenheit beschädigt.« Er schaute kurz zu Liya. Sie nickte undlief los. »Was hat Atso in all den Jahren seit dem Tod seiner Frau gemacht?«
    Die Tibeter sahen sich verunsichert an. Die ältesten von ihnen wichen Shans Blick aus.
    »An seiner Kleidung hingen keine Wollfasern, und er hatte kein Lanolin an den Händen, also war er kein Schafzüchter. Ich werde euch verraten, was ich glaube«, sagte Shan. »Er hat sich um alte, verborgene Schreine gekümmert. Er besaß ein gau und eine Gebetskette. Er trug einen Beutel mit Blumenblüten und einen mit Holzspänen bei sich. Und Wasser. All das hat man früher auf die Altäre gestellt. Er hatte seinen Glauben noch nicht verloren. Und er war unterwegs zu einem Altar.«
    Liya kehrte mit der kleinen Silberstatue zurück. Shan stellte sie auf einen flachen Felsen ins helle Sonnenlicht. »Ich glaube, ich kenne das Tal, in dem Atso gewohnt hat«, fuhr er fort. »Es ist dort sehr trocken, nichts als Felsen und
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