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Der verlorene Freund: Roman (German Edition)

Der verlorene Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der verlorene Freund: Roman (German Edition)
Autoren: Carlos María Domínguez
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nur eine Ablenkung gewesen war. Hatte er auch Nelson misstraut und lieber den Kommissar dabeigehabt? Aber wie hätte er dann entkommen sollen? Nichts ergab am Ende einen Sinn, am wenigsten die lange Sauftour, die bloß der Laune zu folgen schien und uns doch im exakten Moment zur alten Straße geführt hatte.
    Im Laufe der Tage, als ich wieder fähig war, ohne Befremden das Licht im Zimmer einzuschalten, das Gas anzustellen und zum Telefonhörer zu greifen, zerrannen Santana, Beppo, die Zigeunerin, der Arbeiterclub und die seligen Herdentiere allmählich wie ein Traum, vielleicht, weil ihre Wirklichkeit von meinen Augen abhing und nichts den Blick ersetzen kann. Am Sonntag ging ich zum Flohmarkt auf der Tristán Narvaja und sah bei mehreren befreundeten Buchhändlern vorbei, und es war ein Trost, wie auseiner anderen Straße, einer anderen Zeit anzukommen und wieder eins zu werden mit meinem Gesicht und meinem Ruf des Einzelgängers unter ähnlichen Geschöpfen, die Alter und Gewerbe gleichermaßen gezeichnet hatten. Pasero fragte, ob ich kaufen wolle, und als ich sagte, nein, das sei vorbei, legte er mir eine Erstausgabe von Molinas Lloverá siempre vor, die aus meiner Bibliothek stammte. Ich wusste es, bevor ich das Buch aufschlug und meine Handschrift am Rand sah, so herausfordernd blickte sein fröhliches Gänsegesicht mit dem dürren, schlaffen Hals, dem das ewig gleiche braune Sakko nun zu groß war, dazu die riesigen Augen, die ihn in den Rang einer Karikatur erhoben. Ich blättere in dem Buch und ließ es auf dem Tisch liegen, denn inzwischen konnte ich damit umgehen: Früh oder spät im Leben haben wir Schwierigkeiten, unsere Schließmuskeln zu kontrollieren, die Zeit einzuteilen, die Phantasien beiseitezuschieben. Dazwischen versuchen wir, dem Dasein ein Ziel zu geben, der Rest ist ein rührendes Durcheinander unserer Sinne. Eines Tages suchen wir unter dem Bett die Brille, die wir auf der Nase tragen, und wir entdecken, wie gern wir mit Kindern reden. So weit war ich noch nicht, aber ich wartete voll Neugier darauf, voll der Vorfreude, einen Romandialog mit dem Licht eines Kinofilms oder einer Kindheitserinnerung verschmelzen zu lassen und zu spüren, dass es keine Rolle spielt, woher kommt, was uns wichtig ist. Ob Phantasie oder Wirklichkeit, alles hat sichunmerklich im selben Teil des Gehirns versammelt, nach und nach schwindet das Licht, die Töne entfernen sich, und der Geist wird zu einem großen 3-D-Kino, das Sequenzen neu montiert und wiederholt. Niemand weiß, wann es vorüber ist, doch am Anfang steht diese Verwirrung, die auch Hansen schließlich an einer Parallelwelt zerschellen ließ, an einer der vielen autonomen Welten, die uns fremd bleiben, bis uns ein Autoreifen zwingt, bei einer Werkstatt anzuhalten, an der wir sonst vorbeigefahren wären. In anderen Fällen kann es ein Diebstahl sein oder etwas, was wir verloren haben. Hansens eigentlicher Unfall hatte in seinem Bewusstsein stattgefunden. Ein Frontalzusammenstoß mit dem, was er nicht über sich brachte.
    Ich musste den Kopf freibekommen, den Ausweis verlängern, meine Rente kassieren. Mehrere Tage lang lenkte ich mich mit allerlei Tätigkeiten ab, dachte nicht mehr an Waldemar, bis ihn ein Satz von Samuel Johnson zurückbrachte: »Melancholiker neigen dazu, sich in die Maßlosigkeit zu flüchten« hatte er zu Boswell gesagt, als sie sich eines Abends in der Old Mitre Tavern unterhielten. Da blickte ich vom Buch auf und dachte, dass weder Beppo noch ich Santana verstanden hatten. Mit einem Mal war ich überzeugt, dass der Kommissar auf seiner falschen Fährte der Frage doch am nächsten gekommen war, warum Hansen so skrupellos das Kreuz mitgenommen hatte, müde, sich selbst treu zu bleiben, ewig vertrauenswürdig zu sein, für die anderen wie für sich selbst, und so hatte er sich das Gegenteil beweisen wollen, nicht etwa, weil seine Tugend geheuchelt gewesen wäre, sondern weil sie ihn ausgelaugt hatte. Einmal hatte er mir erzählt, wie sehr es ihn erschöpfte, all die Urkunden zu überprüfen, »diese paranoiden Evangelien«, wie er sie nannte, voller Maßangaben, Adressen, Namen, Ausweisnummern, Eheschließungen, Verwandtschaftsgrade, und mit dem einzigen Ziel, dem phönizischen Übel der Schrift vorzubeugen: der Möglichkeit, übers Ohr gehauen zu werden. Er wollte das Kreuz nicht betrachten, wie Santana richtig bemerkt hatte, er wollte auf kindliche Weise eine Grenze überschreiten, wie ein kleiner Junge mit seinem Spielzeugschwert.
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