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Der verlorene Freund: Roman (German Edition)

Der verlorene Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der verlorene Freund: Roman (German Edition)
Autoren: Carlos María Domínguez
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dem Raum waren außerdem mehrere Skulpturen zu bewundern, eine Treppe und eine Empore, von derweitere Zimmer abgingen, und bevor ich aus dem Staunen herauskam, hatte sich Marcelo erhoben und reichte mir die Hand, während er mit der anderen seinen Sakkoschoß festhielt. Mit dem kurzen Haar und der losen Krawatte wirkte er abgekämpft und sprach mit einer dumpfen Stimme, die mich an Hansen erinnerte. Er wirkte noch größer als auf dem Friedhof, hatte Augenringe, und ein Lächeln zerrte an den Mundwinkeln.
    Als wir uns gesetzt hatten, bedachte er mich mit den üblichen Fragen nach meinen Interessen und kommentierte alles höflich, während er sein Essen herunterschlang. In Literatur kannte er sich wenig aus, hatte aber gerade Moby Dick gelesen und begriff nicht, warum ein langweiliges Handbuch über Pottwale mit ein paar wenigen Kapiteln eigener Erfindung so berühmt geworden war. Dieser Kapitän Ahab …, sagte er, ohne von seinem Teller aufzublicken, während ich die weißen Wände betrachtete, die hohen, weißen Decken, die minimalistische Treppe samt Empore. Ich hob zu einer dezenten Verteidigung Melvilles an, aber er war mehr daran interessiert, mit dem Lachs fertig zu werden und von meinen Stationen als Diplomat zu hören. Immer wieder fragte er, wo ich noch gewesen sei, ließ jedoch die Bewegungen auf dem Tisch nicht aus dem Auge, unempfindlich gegenüber Wandas Versuchen, aus dem Verhör wieder ein Gespräch zu machen. Er war um die vierunddreißig, fünfunddreißig, wirkte mit jeder Frage älterund konnte sich auf kein Thema konzentrieren, obwohl er mehrere der erwähnten Orte kannte.
    Die Crêpes stopfte er hastig in sich hinein, hätte sich, wie mir schien, am liebsten eine in die Sakkotasche gesteckt und entschuldigte sich dann, er habe eine Videokonferenz, ging die Treppe hinauf und verschwand im oberen Stock. Er hatte auf mich einen kopflosen Eindruck gemacht, vielleicht weil sein Kopf dort war, wo ihn weder seine Mutter noch ihre Gäste erreichen konnten. Sie nahm ihn in Schutz, er sei so beschäftigt, und verteidigte sich mit der Frage, ob ich Kinder hätte. Ich gab ihr zu verstehen, dass mir ein Sohn wie Marcelo gefallen hätte.
    »Er ist ein guter Junge«, sagte sie, während sie ihr Glas hob, »aber einen glücklichen Menschen habe ich nicht aus ihm machen können, wie Sie gewiss bemerkt haben.«
    »Ein ernstes Problem für eine Mutter.«
    »Mein Mann war zu wenig präsent. Die Verantwortung lag bei mir.«
    Sie stellte das Glas hin, konzentrierte sich auf ihren Salat, stocherte mit der Gabel darin herum und fügte hinzu:
    »Er kann nie länger als fünf Stunden schlafen.«
    »Und nimmt auch keine Tabletten.«
    »Die schaden seiner Leber. Er hat kein einfaches Leben.«
    Sie erzählte, dass Waldemar eine Zeitlang versucht hatte, ihn für die Musik zu interessieren, ohne Erfolg.
    »Hatten sie ein gutes Verhältnis?«
    »Marcelo hing sehr an ihm. Er hat ihn nicht bewundert, aber Walli ist gut mit ihm ausgekommen, auch wenn ich nie wusste, worüber sie redeten. In gewisser Weise waren sie sich ähnlich, nur dass mein Bruder diesen großmäuligen Stolz hatte.«
    »Ich weiß nicht, ob ich Sie recht verstehe.«
    »Nun gut, jeder, der seine Familie verachtet, leidet an einer Art Überheblichkeit, meinen Sie nicht?«
    »Aber er hat sich um seine Tochter gekümmert.«
    Sie verdrehte die Augen und schob den Teller beiseite.
    »Ich bitte Sie, dieses Mädchen war ein Irrtum, von Geburt an. Ich musste nur ein einziges Mal die Mutter sehen, und mir war klar, dass da nichts Gutes herauskommen konnte. Beide haben sie ihn ausgenutzt, solange sie konnten, aber Walli glaubte, dass Eva ihn liebte. Er hat sich geirrt.«
    »Hat er irgendetwas gut gemacht?«
    »Um ehrlich zu sein, er hatte Talent fürs Klavier. Hat er Ihnen davon erzählt? Mit sechzehn spielte er Ragtime, wunderschöne Melodien, mit achtzehn improvisierte er bereits mit erfahrenen Musikern, sie gründeten eine Jazzband, aber er war zu feige zum Weitermachen.«
    »Vielleicht hat er gemerkt, dass es nichts taugte.«
    »Nein, es machte ihm wirklich Freude. Aber meine Mutter hat sich an ihn geklammert. Sie hat ihm gesagt, was er zu tun hatte.«
    »Und aus ihm wurde ein Notar.«
    »Hätte sie Kaminkehrer gesagt, er wäre mit rußigem Gesicht auf einem Fahrrad losgezogen. Wir mochten uns wie die meisten Geschwister, auf unsere Weise. Ich habe Eva eine Chance gegeben, obwohl sie mich hasste, sogar Nina, obwohl sie ihm sehr geschadet hat, aber nie habe ich
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