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Der verkaufte Patient

Titel: Der verkaufte Patient
Autoren: Renate Hartwig
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jedem raten, wie ein Löwe dafür zu kämpfen, dass die Gesundheitskarte nie Realität wird.
    Bleiben wir noch einen Moment im Zimmer des freien, niedergelassenen Arztes, der mein Anwalt ist, weil ich ihm vertraue. Im Gespräch mit ihm möchte ich entscheiden, ob die vorhandenen gesundheitlichen Probleme vor Ort mit Bordmitteln geklärt werden können oder ob weitere (auch weitreichende) diagnostische bzw. therapeutische Kompetenz hinzugezogenwerden muss, ob eine Umstellung der Lebensweise, vielleicht sogar ein Berufswechsel angezeigt ist, ob eine medikamentöse Therapie das Mittel der Wahl ist oder ob es Zuspruch und Ermutigung sind, die mich aus meiner gesundheitlichen Krise führen. Und auch hier möchte ich als Patientin die absolute Sicherheit haben, dass der Arzt meines Vertrauens ein bestimmtes Mittel nur aus einem einzigen Grund wählt: weil es gut für mich ist. Müsste ich die Befürchtung haben, die Wahl des Mittels könnte durch irgendeine Abhängigkeit des Arztes (etwa von einer Pharmafirma) oder durch das Diktat einer Krankenkasse oder durch die Software eines Gesundheitsanbieters bestimmt sein – es würde alles zerstören.
    Das ist der Kern der Sache, das Herz des gesamten Gesundheitswesens. Und alle Phänomene, die sonst noch da sind – die Industrien, Hierarchien, Expertokratien und Bürokratien des Gesundheitswesens –, sind Beiwerk. Manches davon braucht man – aber an der
Peripherie
. Diese Dinge müssten sein wie Gondeln an einem Riesenrad, das um die Mitte einer geschützten Arzt-Patienten-Beziehung kreist. Sie dürften nur
mit bewegt
, niemals aber der eigentliche Beweger des Gesundheitswesens sein. Derzeit ist es anders. Alles dreht sich ums Geld. Das Tempo wird schneller. Ganz außen kreisen ein paar verlorene Ärzte; die noch nicht ganz aus dem System geflogen sind, krallen sich an ihre halbzerstörten Gondeln. Und auch der Patient fliegt ganz außen am Rand mit. Er ist eine marginale Größe in diesem Spiel. Obwohl das Riesenrad eigentlich für ihn gebaut wurde.
    *
    Jonathan Swift berichtet in seinem berühmten Roman von einem Mann namens Gulliver, der auf einer Reise Schiffbruch erleidet. Eines Morgens wacht er an einem Strand auf und findet sich an Armen, Beinen und Haaren gebunden und gefangen.Die ganze Nacht haben Zwerge daran gearbeitet, dass sie rund um ihn Pflöcke in die Erde schlugen, ihn mit tausend kleinen Fäden, Seilen und Stricken fesselten und bewegungsunfähig machten.
    Sie ahnen, warum ich das erwähne. Gulliver, der Riese,
das sind wir
, das souveräne Staatsvolk, von dem »alle Macht im Staat« ausgeht. Doch dieser Souverän liegt gebunden auf der Erde.
Wir sind es
, die wir uns nicht mehr rühren können. Und warum? Im Schutz der Dunkelheit, während wir geschlafen haben, waren agile Netzwerker und Experten an der Arbeit. Sie haben eine Menge »festgemacht«, das uns bindet. Niemand hat uns danach gefragt. Es war eine Nacht-und-Nebel-Aktion. Nun liegen wir an der Kette, sind politisch handlungsunfähig und scheinbar zur Machtlosigkeit verdammt. Sie können mit uns machen, was sie wollen. Was nun Art und Anzahl der Stricke angeht, so will ich Sie nicht im Vagen lassen: Freundlicherweise hat der etwas offenherzige Ulla-Schmidt-Intimus Franz Knieps im Januar 2007 einige davon beschrieben, als er vor amerikanischen Investoren, deutschen Begünstigern und dem versammelten neoliberalen Establishment von »aktuell 3045 Verträgen zur Integrierten Versorgung« sprach – und hinzufügte, das entsprechende Vergütungsvolumen betrage derzeit »ca. 577 Millionen Euro«.
    Wenn Sie nun sagen: Aber das mit der »Integrierten Versorgung« – das hat uns nie jemand gesagt! Hätte es uns jemand gesagt, wir hätten ihn dorthin gejagt, wo der Pfeffer wächst. Leider muss ich Ihnen sagen: Sie sind betrogen worden.
Sie, liebe Bürger und Patienten, sind bereits verkauft. Sie wissen es nur noch nicht
. Sie sollten nicht – sie durften nicht befragt werden. In der
Black Box
des Dreigestirns aus Politik, Kassen und Kassenärztlichen Vereinigungen wurden Tausende von Verträgen, Vereinbarungen und Joint Ventures mit Wirtschaftsunternehmen geschlossen, die auf der Vertragsebene heute schon den Horror von morgen vorwegnehmen. Allein aus diesem Grund erklärt sich der pathologische Starrsinn,mit dem das Dreigestirn am einmal eingeschlagenen Weg festhält, obwohl absehbar ist, dass er falsch und erst recht unbezahlbar und – was für Politiker das Schlimmste ist – Wählerstimmen ohne Ende
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