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Der verkaufte Patient

Titel: Der verkaufte Patient
Autoren: Renate Hartwig
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nicht mehr über die gesetzliche Krankenversicherung abgedeckt, sondern aus Mitteln der Eigenbeteiligung erbracht (Zuzahlung). Neben dem System staatlicher Leistungen hat sich in den letzten Jahren ein regelrechter »Gesundheitsmarkt« etabliert, der von Wellness-Angeboten über Anti-Aging-Therapien und Fitnessprogrammen bis hin zu Schönheitsoperationen reicht, ein Markt, an dem auch Ärzte und Klinikeinrichtungen teilhaben. Die Rede ist von so genannten »IGeL-Leistungen«, sprich: individuellen Gesundheitsleistungen.
    Mit 10,7 % Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) besitzt Deutschland das viertteuerste Gesundheitssystem der Welt. Auf 1000 Einwohner kommen 3,4 niedergelassene Ärzte und 9,7 Krankenpfleger/Krankenschwestern. 2004 arbeiteten 4,2 Millionen Menschen in der Gesundheitswirtschaft, das waren 10,6 % aller Beschäftigten. Die sogenannten Krankheitskosten beliefen sich im Jahr 2006 auf insgesamt 234 Milliarden Euro; pro Mann waren das 2240 Euro, pro Frau 3160 Euro. Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 2006 verteilten sich wie folgt: 34,0 % Krankenhausbehandlung, 17,5 % Arzneimittel, 15,1 % ärztliche Behandlung,5,5 % Verwaltungskosten, 5,2 % zahnärztliche Behandlung, 3,9 % Krankengeld, 3,1 % Hilfsmittel, 2,5 % Heilmittel, 2,0 % Fahrtkosten, 1,6 % Vorsorge und Reha-Maßnahmen, 1,4 % häusliche Krankenpflege; der Rest, immerhin 8,2 %, wurde für Sonstiges ausgegeben.
     
    *
     
    Warum sind mächtige Gruppen so heftig am Umbau unseres Gesundheitssystems interessiert, der unter dem Decknamen »Gesundheitsreform« vorangetrieben wird. Mehr noch: Warum möchten sie diesen Umbau steuern? Die Antwort ist eindeutig: Es ist die Aussicht auf hohe Gewinne, die private Investoren anlockt. Und dass im Gesundheitswesen künftig ordentlich verdient werden kann, dafür sprechen handfeste Gründe:
     
    1. »Gesundheit« ist ein Produkt, das – greift man auf die Kategorien
nice to have
und
must have
zurück

eindeutig ein
must have
ist. Kaugummi muss niemand haben, er ist
nice to have –
aber Gesundheit braucht jeder, sie ist ein
must have
. Gesundheit ist nicht alles, heißt es, aber ohne Gesundheit ist alles nichts. In den Augen der meisten Menschen ist Gesundheit deshalb das höchste Gut. Manch einer opfert sein Vermögen, rennt von Arzt zu Arzt, testet jede nur denkbare und Hoffnung vermittelnde Therapie, um von seinen Leiden erlöst zu werden. Bei der Gesundheit geht es buchstäblich um Kopf und Kragen. Das wissen die Anbieter von Gesundheitsprodukten und Gesundheitsdienstleistungen, und sie spielen geschickt auf dieser Klaviatur. Sie wissen, dass viele Menschen für die Wiedererlangung ihrer Gesundheit jeden Preis bezahlen würden. Und weil es die natürliche Logik jedes Wirtschaftsunternehmens ist, werden die Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen alles daransetzen, dass erstens auch jeder Preis gezahlt wird und zweitens siean genau der Stelle sitzen, an der das
must-have
-Produkt, die
must-have
-Dienstleistung, nachgefragt wird. Marketing orientiert sich bei der Preisgestaltung übrigens keineswegs primär an den Gestehungskosten eines Produkts; es versucht den Preis zu bekommen, der beim Kunden gerade noch durchsetzbar ist.
    2. Wir leben in einer Gesellschaft, in der unglaublich viel Geld gehortet wird. Menschen werden alt und haben bedeutende Vermögen angespart. Diese Reserven haben die Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen im Blick. Der Zugriff erfolgt nicht mit vorgehaltener Maschinenpistole. Die Leute geben ihr Geld ja freiwillig her, weil Gesundheit in unserer wohlhabenden Gesellschaft einen extrem hohen Stellenwert hat. Je wohlhabender eine Gesellschaft ist, desto mehr lässt sie sich ihre Gesundheit kosten. Die Businesspläne der Gesundheitskonzerne von morgen rechnen heute schon mit der bekannten Einsicht des Philosophen Voltaire:
»In der ersten Hälfte unseres Lebens opfern wir unsere Gesundheit, um Geld zu verdienen. In der zweiten Hälfte unseres Lebens opfern wir das Geld, um unsere Gesundheit wiederzuerlangen.«
     
    Sollte je eine Gesundheitsindustrie ohne jegliche staatliche Kontrolle bei uns Wirklichkeit werden (und vieles spricht dafür), so dürfen wir eine Orwellsche Welt erwarten: Das »System« wird radikal alles in die Hand bekommen, was nur entfernt nach Gesundheit riecht; es wird alle Einrichtungen besitzen, alle Personen kontrollieren, alle Pflegekräfte, alle Ärzte. Freie Ärzte wird es nicht mehr geben. Man wird sie auf Linie bringen und zu Funktionären
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