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Der verkaufte Patient

Titel: Der verkaufte Patient
Autoren: Renate Hartwig
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selbst wüsste, was mir fehlt, bräuchte ich ihn nicht.
    Während meiner Schilderungen merkte ich nach und nach, dass der Mann zeitlich unter Druck stand. Klar, dachte ich, im Wartezimmer warten noch viele Patienten, daran wird es liegen. Dann rief ihn seine Sprechstundenhilfe auch noch wegen einer unaufschiebbaren Angelegenheit zu sich. Ich saß allein im Sprechzimmer und genoss erst einmal die zwangsweise verordnete Ruhe – Ruhe, von der ich viel zu wenig habe! Aber da war dieses Geräusch!
    Ich schaute auf den PC, der sich offenkundig selbständig machte. Ein Laufband ließ mich wissen: »Die veranschlagte Zeit für diesen Patienten ist abgelaufen!« Na super, am liebsten hätte ich mich an die Tastatur gesetzt und dazu geantwortet: »Denkste!« Schließlich kam der Arzt zurück. Ich zeigte wortlos auf das Laufband, sollte ja meine Stimme schonen. »Oh«, meinte der Arzt, peinlich berührt, »das hat nichts mit Ihnen zu tun, das ist nur ein Hinweis, damit ich nur ja in der Zeit bleibe, die uns für jede Behandlung vorgegeben ist.« – »So«, konterte ich, »jetzt geht es schon beim Arzt zuwie am Fließband bei der Autoindustrie, Akkord nennt man es da!«
    Mein Hausarzt begann sich sichtlich unwohl in seinem Kittel zu fühlen: »Sie sind mir absolut wichtig, aber leider läuft durch die Gesundheitsreform alles anders … Behandlungszeit ist ein Kostenfaktor.« Mir kochte die Galle über: »Ich will Ihnen mal was sagen: Meine Behandlungszeit ist nicht dann zu Ende, wenn Ihre Kiste piept, sondern wenn wir beide mein Gesundheitsproblem kapiert und auf eine Weise gelöst haben, dass ich weiß, was ich machen kann und soll.« Irgendwie verstand es Stephan (wir sind längst per Du und wie gesagt heute gute Freunde), mich von der Decke zu holen: »Schauen Sie, wir alle, meine Kollegen genauso, müssen uns an die Richtlinien halten, die uns vorgegeben sind. Wir haben ein enges Budget, jede Behandlung wird zeitlich berechnet, wir werden über ein Punktesystem bezahlt. Ist die Zeit für ein Patientengespräch abgelaufen, zahlt die Kasse nichts mehr. Alles, was Sie über dieses Zeitbudget hinaus in Anspruch nehmen, geht auf meine Rechnung.« Ich bekam den Mund nicht mehr zu. Jetzt war es an Stephan, sich in Rage zu reden: »Wissen Sie, was ich dafür bekomme, dass Sie hier sitzen?« Er nannte mir eine Summe, und ich verglich sie mit dem Honorar einer Putzhilfe. 1 : 0 für die Putzhilfe!
    Jetzt flunkert er aber, schoss es mir durch den Kopf. Aber Stephan ließ sich nicht bremsen: »Wir alle sind keine ›Ärzte‹ mehr, sondern Sklaven eines perfiden Systems, das uns zu Dingen zwingt, die mit dem ärztlichen Ethos eigentlich völlig unvereinbar sind. Wissen Sie, was ich tun soll, damit ich meine Familie ernähren kann?« Ich hatte keine Ahnung. »Haben Sie schon mal was von IGeL-Leistungen gehört? Ich soll Ihnen zusätzlich Dienstleistungen und Produkte verkaufen. Irgendwelchen Gesundheitsklimbim, womit ich mein schmales Salär aufbessern kann.« Ich schaute skeptisch. Stephan ließ sich nicht bremsen: »Was wollen Sie? Ich habe eine ganze Menge davon! Hier ein Euro, da ein Euro. Wer will noch mal,wer hat noch nicht? Zusätzliche Stuhlprobe gefällig? Die von der Kasse ist natürlich Mist. Schnell doch noch mal wissen wollen, wie es mit den Pilzen im Körper steht? Könnte ja megagefährlich sein, wenn das nicht entdeckt wird! Ist ja auch gar nicht teuer. Ein bisschen mehr müssen Sie schon berappen für gewisse Impfungen – aber wollen Sie wirklich Ihr Leben riskieren?« Ich hatte genug. »Bleiben Sie mir mit Ihrem Bauchladen von der Pelle!«
    Ich wusste in diesem Moment nicht, was mich an seinen Ausführungen so spontan und heftig empörte. Kein Mensch ist schließlich gezwungen, bestimmte ärztliche Dienstleistungen oder Produkte zu kaufen. Man kann nein dazu sagen. Dennoch hatte ich das unbestimmte Gefühl, hier sei eine Art Rubikon überschritten, hier tut ein Arzt – gezwungen oder freiwillig – etwas, das ihm in keiner Weise zukommt, wenn er denn den Namen »Arzt« verdient. Das Gespräch mit Stephan endete daher mit einer ungewöhnlichen Maßnahme. Ich lud meinen Hausarzt zu uns nach Hause ein. Ich wollte es genau wissen. An einem Abend derselben Woche noch kam Stephan tatsächlich. Wir diskutierten bis nach Mitternacht. Was ich an Details über den deutschen Gesundheitsdschungel erfuhr, entfachte in mir nur noch heftigeren Zorn.
Wir sind alle keine Ärzte mehr
     
    Eine Woche nach diesem Erlebnis saßen bereits
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