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Der verkaufte Patient

Titel: Der verkaufte Patient
Autoren: Renate Hartwig
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– und ich werde sauer, wenn jemand gegen diesen Codex verstößt.« Mir hat der Text gefallen. Ich denke, Sie haben auch Freude daran:
Ein Patient ist die wichtigste Person in unserer Praxis, gleichgültig, ob er persönlich da ist oder telefoniert
.
Ein Patient hängt nicht von uns ab, sondern wir von ihm
.
Ein Patient ist keine Unterbrechung unserer Arbeit, sondern ihr Sinn und Zweck
.
Ein Patient ist jemand, der uns seine Wünsche bringt. Unsere Aufgabe ist es, diese Wünsche in erster Linie gewinnbringend für ihn, aber auch gewinnbringend für uns zu erfüllen
.
Ein Patient ist keine kalte Statistik, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, mit Vorurteilen und Irrtümern behaftet
.
Ein Patient ist kein Außenstehender, sondern ein lebendiger Teil unserer Praxis. Wir tun ihm keinen Gefallen, indem wir ihn bedienen, sondern er tut uns einen Gefallen, wenn er uns Gelegenheit gibt, es zu tun
.
Ein Patient ist jemand mit eigenem Geschmack. Wir können nicht erwarten, dass er den gleichen Geschmack hat wie wir, sondern müssen versuchen, uns in ihn zu versetzen und ihn zu verstehen
.
     
    Mir gefiel der Text. In einer solchen Praxis, dachte ich mir, fühlst du dich wohl. Da bist du nicht die Nummer XY-88-Z oder die »Niere von Zimmer 7«. Da begegnen dir Menschen mit Liebe und Achtung, weil sie verstehen, dass du in einer besonderen Situation bist. Man geht schließlich nicht aus Jux und Tollerei zum Arzt, sondern aus Not – weil man von etwas gequält ist, weil einem der Kopf platzt vor Schmerzen, weil man kolikartige Schmerzen hat, weil das Herz nicht mehr in einem natürlichen Rhythmus schlägt – letztlich, weil man »Patient« ist.
    Das Wort »Patient« stammt aus dem Lateinischen; es kommt von
patiens
, und es bedeutet:
etwas erduldend
. Ich glaube, es gehört zur normalen Kultur unter anständigen Menschen, dass man sensibel ist für Menschen, die
etwas erdulden
, sei es eine Krankheit, vielleicht sogar eine lebensbedrohliche, sei es ein körperliches oder seelisches Handicap, sei es ein Unfall, der einen Menschen von jetzt auf gleich aus der Bahn wirft und zu einem Angewiesenen, Abhängigen, Hilfsbedürftigen macht. Der mittelalterliche Gründer der Malteserritter verlangte von seinen Leuten, dass sie die Kranken, die in das Jerusalemer Hospital aufgenommen wurden, als die »Herren Kranken« ansehen und entsprechend behandeln sollten. Aber schon unser Herz sagt uns, dass wir ihnen mit größerer Liebe und Nachsicht begegnen müssen als den anderen, den Gesunden, Jungen, Unbelasteten. Oder haben wir es in unser nachchristlichen Gesellschaft nur noch irgendwie in den Genen, dass wir
mitleidig
sein sollen? Es gibt einen Satz von Heinrich Böll, der mich nachdenklich machte: »Selbst die allerschlechteste christliche Welt würde ich der besten heidnischen vorziehen, weil es in einer christlichen Welt Raum gibt für die, denen keine heidnische Welt je Raum gab: für Krüppel und Kranke, Alte und Schwache, und mehr noch als Raum gab für sie: Liebe für die, die der heidnischen wie der gottlosen Welt nutzlos erschienen und erscheinen.«
    Ich bin mir ziemlich sicher, dass heute viele ganz anders denken. Sie halten Mitleid für Luxus. Sie schaffen die Alten aus den Augen, kasernieren sie in Gettos, genannt Altenheime. Sie verklagen Urlaubsveranstalter wegen der »störenden Behinderten« am Pool. Sie gehen gnadenlos mit anderen um – und sie gehen gnadenlos mit sich selbst um. Sie glauben von sich und ihrem Körper, sie seien eine Art Maschine, und wenn da etwas nicht funktioniert, geht man zum Klempner, sprich zum Arzt. Der richtet das dann. Mitleid stört beim Wechsel von Ersatzteilen. Ich verlange aber von einem Arzt, dass er sich nicht in die Maschine RH eindenkt, sondern inden Menschen Renate Hartwig einfühlt. Wenn ich
patiens
bin, also etwas erdulde, das ich nicht aktiv beheben kann, wenn ich streckenweise die Kontrolle über mich verliere, denn das heißt ja krank sein, wenn ich vielleicht sogar um mein Leben fürchte, dann soll jemand da sein, der mich
versteht
, der mich unterstützt, um eventuell Wege zu finden, die mir helfen, mich zu heilen.
Der Arzt meines Vertrauens
     
    Darum ist das erste Wort, das mir einfällt, wenn ich an »Arzt« denke, das Wort
Vertrauen
. In einen Architekten sollte man ein gewisses Vertrauen haben, mehr noch in einen Steuerberater und noch mehr in einen Busfahrer im Oberengadin. Aber ich kenne keinen Beruf, in dem Vertrauen eine solch fundamentale Rolle spielt wie bei
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