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Der Verehrer

Der Verehrer

Titel: Der Verehrer
Autoren: Charlotte Link
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ihrem Gurt und fühlte das Blut in warmen Rinnsalen zu ihren Füßen hinablaufen.
    »Leona!« wiederholte er drängend.
    Sie brachte endlich die Kraft auf, den Kopf zu wenden und ihn anzusehen. Er saß auf der Seite des Autos, die den Baum unmittelbar erwischt hatte. Es hatte den Anschein, als sei hier das Äußere des Wagens in das Innere gequetscht worden. Die Windschutzscheibe war herausgebrochen bis zur Mitte, der Rahmen war gesplittert, Stangen ragten kreuz und quer in die Luft. Robert hatte das Armaturenbrett unmittelbar vor sich, kaum zwei Handbreit hätten noch Platz gefunden zwischen seiner Brust und dem Knäuel aus Plastik und Glas, das sich unentwirrbar zusammengeballt hatte. Das Lenkrad schien in seinem Bauch zu verschwinden. Schien? Wo sollte es sonst sein, fragte sich Leona und wandte sich hastig ab, kämpfte den Brechreiz nieder, der sie plötzlich schüttelte.
    »Leona!« flehte Robert.
    Mühsam sah sie wieder zu ihm hin. Sein Gesicht, von wächserner Blässe, zeigte keine Schramme, keinen Kratzer. Es war so schön wie immer und völlig unversehrt. In seinen klaren Augen aber hatte sich bereits die Gewißheit des Sterbens eingenistet.
    »Leona, du bist wach?«
    »Ja«, wisperte sie.
    »Bist … du verletzt?«
    »Meine Beine … irgend etwas ist mit meinen Beinen …«

    »Kannst du aussteigen?«
    »Ich weiß nicht … was ist mit dir?«
    »Ich sterbe«, sagte er.
    »Ich werde sehen, daß ich aussteigen kann. Vielleicht kommt jemand vorbei. Wir brauchen einen Arzt. Einen Notarztwagen.«
    »Keinen Arzt, Leona. Dafür ist es zu spät. Ich möchte nur … hilf mir hier raus. Hol mich aus diesem Auto. Ich … habe solche Schmerzen. Ich will nicht so sterben … bitte … hol mich raus …«
    Es bedurfte einer sehr bewußten geistigen Anstrengung, ihren Beinen den Befehl zu geben, sich zu bewegen. Für gewöhnlich geschahen diese Dinge automatisch. Jetzt schien sich der Weg über die Nervenbahnen von ihrem Gehirn bis zu den ausführenden Gelenken vervielfacht zu haben. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie ihre Beine hinausgehoben hatte. Dann schob sie langsam ihren Körper durch die zerbeulte Tür hinterher.
    Sie wußte, daß es warm draußen war, heiß sogar, aber sie fror dennoch heftig. Ihre Fingerspitzen fühlten sich taub an, bitzelten nur leicht. Sie stützte sich auf dem vergleichsweise unversehrten Kofferraum des Wagens ab, als sie vorsichtig um den Blechhaufen herumging. Übelkeit und Frieren wurden stärker.
    Sie hielt Ausschau nach einem anderen Fahrzeug oder nach irgendeinem Menschen, einem Bauern vielleicht oder einem Spaziergänger, aber weit und breit blieb alles still und leer. Bienen summten träge durch den heißen Nachmittag. Nicht einmal eine Kirchturmspitze in der Ferne verriet die Nähe eines Dorfes. Die Landstraße verlor sich als gewundenes graues Band irgendwo am Horizont, wo die Wiesen an den Himmel grenzten.
    Blühender Klee zu ihren Füßen. Löwenzahn. Aufgewühlte
Erde dort, wo sich die Reifen ihren Weg gebahnt hatten. Sie könnte versuchen, die Straße entlangzulaufen …
    Sie hörte wieder seine flehende Stimme. »Leona. Bitte … die Schmerzen …«
    Sie fluchte leise, tappte ganz um das Auto herum. Die Fahrertür war stark verschoben, ließ sich erst beim dritten Versuch öffnen. Das Bild, das sich ihr von dieser Seite bot, war das gleiche wie vorher. Robert hatte den Kopf herumgedreht, sah sie an.
    »Bitte …«
    Sie konnte die Worte mehr an seinen Lippen ablesen, als daß sie sie hörte.
    »Die Schmerzen …«
    Sie wußte nicht, ob ihm tatsächlich das Lenkrad im Bauch steckte oder ob es die völlig verkrümmte, zusammengeschobene Haltung war, was ihn fast rasend werden ließ vor Schmerzen, aber sie begriff, daß es der letzte und einzige Wunsch seines Lebens noch war, sich auf der Erde ausstrecken zu können und dort zu sterben. Er hatte den Gesichtsausdruck eines Tieres, das qualvoll in einer Falle verendet.
    Sie neigte sich über ihn, versuchte, ihre Hände unter seine Arme zu schieben. Er stöhnte entsetzlich, wurde noch fahler. Sie merkte, daß er versuchte, sich zu beherrschen, damit sie auf keinen Fall nachließ in ihrem Bemühen, ihm herauszuhelfen.
    »Wo ist Felix?« fragte sie leise.
    »Bitte …«, winselte er.
    Sie ließ ihn los. »Wo ist Felix?« wiederholte sie mit schneidender Stimme.
    Er sah sie an, ungläubig, erschüttert.
    »Leona …«

    Sehr leise sagte sie: »Ich lasse dich hier verrecken. Ich schwör’s dir. Hier ist weit und breit niemand, der
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