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Der Verehrer

Der Verehrer

Titel: Der Verehrer
Autoren: Charlotte Link
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Beinen. Eine Frau, die Angst hatte.
    Als sie die Gestalt an dem Baum bemerkte, begriff sie nicht sofort, was sie sah. Sie blieb wie angewurzelt stehen und starrte sie an. Es war, als weigere sich ihr Gehirn, das Bild umzusetzen. Sie dachte zunächst nur: Ich wußte doch, daß jemand in der Nähe ist.
    Und dann, im nächsten Moment, vermochte ihr Verstand
sich nicht länger zu sperren gegen das, was ihre Augen sahen. Die Gestalt war eine junge Frau. Und sie stand deshalb so eigenartig dicht an dem Baum, weil sie an seinen Stamm gefesselt war. Sie stand aufrecht, nur ihr Kopf fiel nach vorn auf die Brust. Die Kleidung hing ihr in Fetzen vom Leib, und überall war Blut. Auf ihr, neben ihr, vor ihr. Man hatte sie an den Baum gebunden und dann regelrecht abgeschlachtet, und man hatte sie dort zurückgelassen wie eine groteske Vogelscheuche, die dem Wald für alle Zeit seine Unschuld, seinen Frieden und seine geheimen Spiele nahm. Das Blut der jungen Frau vernichtete jede Illusion, die Welt könne gut, das Leben leicht sein.
    Der Anblick des Blutes brannte sich für immer in ihr Gedächtnis. Sie meinte es auf ihrer Haut zu spüren, so als sei sie bespritzt worden damit.
    Sie stand nur da und konnte keinen Laut hervorbringen.

I
    1
    Als sie erwachte, herrschte noch Dunkelheit jenseits des Fensters. Ein sanfter Nachtwind strich ins Zimmer, vermochte aber nicht die dumpfe Schwüle zu vertreiben, die noch vom Tag darin lastete. Frankfurt ächzte unter einer Hitzewelle. Über dreißig Grad im Schatten, Tag für Tag, seit fast drei Wochen. Die asphaltierten Straßen, die Häuser sogen die Hitze auf und gaben sie unerbittlich zurück. Die Menschen hatten über den kalten Winter gestöhnt und über den nassen Frühling. Nun beklagten sie den heißen Sommer. Waren die Menschen undankbar? Oder hatte das Klima der verschiedenen Jahreszeiten tatsächlich jegliche Ausgewogenheit verloren, präsentierte es sich nur noch in schwer erträglichen Extremen?
    Sie hatte nicht in das allgemeine Gejammere einstimmen wollen, aber nun dachte Leona doch: Es ist zu heiß, um zu schlafen. Und wußte gleichzeitig, daß es nicht die Hitze gewesen war, was sie geweckt hatte.
    Vergeblich versuchte sie, auf ihrer Armbanduhr, die sie auch nachts am Handgelenk trug, die Zeit zu erkennen. Schließlich knipste sie die Nachttischlampe an. Drei Uhr. Obwohl sie das Licht sofort wieder ausschaltete, hatte das sekundenlange Aufflammen von Helligkeit ausgereicht, Wolfgang zu wecken.
    »Kannst du schon wieder nicht schlafen?« fragte er mit
jenem Anflug von Gereiztheit, der sich erst seit kurzem in seine Stimme eingeschlichen hatte und sich immer auf Leona bezog.
    »Es ist so heiß.«
    »Das hat dir doch noch nie etwas ausgemacht«, sagte er müde. Er wußte auch, daß es nicht an der Hitze lag.
    »Ich glaube, ich habe wieder geträumt«, gestand Leona. Sie hatte längst begriffen, daß sie Wolfgang inzwischen auf die Nerven ging.
    Er schien hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, einfach weiterzuschlafen und Leonas Psychose – wie er ihre Probleme insgeheim nannte – zu ignorieren, und dem Gefühl, zum Zuhören und Trösten verpflichtet zu sein. Sein Pflichtbewußtsein siegte, auch wenn er sich selbst im stillen dafür verfluchte. Er hatte einen harten Tag hinter sich, einen ebenso harten vor sich. Die drückende Schwüle machte ihm zu schaffen, und zudem hatte er eine Menge Sorgen, von denen niemand etwas ahnte. Er hätte seinen Schlaf gebraucht.
    Er seufzte. »Leona, meinst du nicht, du steigerst dich da in etwas hinein? Ich habe den Eindruck, du kreist ständig um diese … Sache. Du grübelst zuviel, und diese Grübelei setzt sich natürlich nachts in Träume um. Du mußt dagegen angehen.«
    »Denkst du, das versuche ich nicht? Ich bemühe mich ständig, mich abzulenken. Mit Arbeit, mit Sport, mit Gesprächen über Gott und die Welt. Ich setze mich bestimmt nicht hin und überlasse mich meinen trüben Gedanken.«
    »Dann dürftest du nicht ständig diese Träume haben.«
    Sie spürte Vorboten jener heftigen Wut, die stets in ihr emporkroch, wenn Wolfgang mit seinen Standardrichtlinien zur Bewältigung von Problemen anrückte. Wolfgang hatte unverrückbare Prinzipien, was Sorgen, Ängste, psychische
Konfusionen anging. »Wenn du dieses oder jenes tust, dürfte dieses oder jenes nicht geschehen!« – »Wenn du dieses oder jenes nicht tust, müßte dieses oder jenes passieren.«
    Wolfgang würde nie den Gedanken akzeptieren, daß sich das Leben einmal nicht
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