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Der Verehrer

Der Verehrer

Titel: Der Verehrer
Autoren: Charlotte Link
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ab.
    Leona hätte später nicht zu sagen gewußt, wie lange sie einfach nur angewurzelt dastand und das Szenario betrachtete. Ihr kam es vor, als vergehe eine Ewigkeit, in der alles um sie herum – die im leisen Wind schaukelnden Blätter, eine Katze, die die Straße überquerte, ein Vogel, der von einem Zaunpfosten zum nächsten hüpfte – Zeitlupentempo annahm, und in der die Geräusche des jenseits des Wohnviertels dahinflutenden Großstadtverkehrs hinter einer lärmschluckenden Glaswand verschwanden.

    Erst als sie die Frau leise stöhnen hörte, erwachte sie aus ihrer Betäubung, lief zu ihr hin und kniete neben ihr nieder.
    »Mein Gott, was ist denn passiert?« hörte sie sich rufen. »Kann ich Ihnen helfen?«
    Was für eine idiotische Frage, dachte sie gleich darauf.
    Die Frau hatte die Augen geöffnet. Sie hatte ein schönes Gesicht; selbst in dieser Situation fiel das noch auf. Nirgendwo war Blut zu sehen, aber nach Lage ihrer Gliedmaßen mußte sie sich nahezu jeden Knochen im Körper gebrochen haben. Sie war blasser, als es Leona je bei irgendeinem Menschen gesehen hatte.
    »Nun hat er es endlich geschafft«, sagte sie, und ihre Stimme klang zwar leise, war aber deutlich und klar zu verstehen. Sie wiederholte: »Nun hat er es geschafft.« Und sah Leona an.
    »Wer hat es geschafft? Von wem sprechen Sie?«
    Die Frau erwiderte nichts mehr. Ihre Augen verdrehten sich plötzlich. Im nächsten Moment verlor sie das Bewußtsein.
    Leona kam zum erstenmal auf die Idee, nach oben zu blicken und herauszufinden, von wo die Fremde überhaupt gefallen war. Sie befanden sich direkt vor einem Neubau, einem sechsstöckigen Appartementhaus, hineingebaut in einen alten, schattigen Garten, in dem früher eine Sandsteinvilla gestanden hatte, die abgerissen worden war, um eine Vielzahl von Menschen auf möglichst kleinem Raum zusammenzupferchen und dabei eine Menge Geld herauszuschlagen. Sie machten das jetzt überall im Viertel so und beraubten es auf diese Weise nach und nach seines ursprünglichen Charmes.
    Das Haus war dicht an die Straße herangebaut, zwei Schritte trennten die Haustür vom Gehsteig. Im obersten Stockwerk stand ein Fenster sperrangelweit offen. Leona
zweifelte nicht daran, daß die Frau von dort herausgesprungen war.
    »Bewegen Sie sich nicht«, sagte sie, überflüssigerweise, denn die Frau war noch ohnmächtig. »Ich werde Hilfe holen. «
    In einiger Entfernung entdeckte sie einen Rentner, der seinen Cockerspaniel spazierenführte. Er war stehengeblieben und starrte herüber, aber seine Miene verriet, daß er entweder nicht richtig sah oder nicht begriff, was geschehen war.
    Sie winkte ihm hektisch zu, er solle herkommen, aber er blieb stehen und glotzte. Sie sprang auf und lief zu ihm hinüber.
    »Die Frau dort ist aus dem Fenster gesprungen!« rief sie. »Wohnen Sie hier? Können Sie den Rettungsdienst anrufen? «
    Er starrte sie an. »Aus dem Fenster gesprungen?«
    »Ja! Wir brauchen sofort einen Notarzt.«
    »Sie können bei mir telefonieren«, bot er an, »ich wohne gleich dort.« Er wies auf eine behäbige Villa, nur wenige Meter entfernt, aber es schien Leona eine Ewigkeit zu dauern, bis er sich auch nur umgedreht hatte, und die schwerfälligen Schritte, mit denen er lostappte, ließen sie beinahe die Nerven verlieren. Aber so panisch sie auch ihre Augen umherschweifen ließ, nirgends konnte sie eine Telefonzelle entdecken. Immer wieder sah sie zu der Frau hinüber. Sie rührte sich nicht.
    Der alte Mann kramte in seinen Hosentaschen nach dem Haustürschlüssel, ohne fündig zu werden, und der Hund fiepte. Leona vibrierte vor Ungeduld. Sie sah eine ältere Frau im Jogginganzug auf die Straße laufen. »Ich habe alles gesehen!« rief sie. »Ich habe den Notarzt angerufen!«
    »Gott sei Dank«, sagte Leona und ließ den Alten stehen.
    Die nächsten zwei Stunden waren ein Chaos aus Ärzten und Polizisten, aus Menschenauflauf und Straßensperre, aus Fragen, Mutmaßungen, neugierigen Blicken und gewisperten Geschichten. Leona stand im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses, denn auf geheimnisvolle Weise hatte es sich sofort allseits herumgesprochen, daß sie Zeugin des Geschehens, erste Person am Unglücksort gewesen war. Aus allen Häusern waren inzwischen die Menschen herbeigeströmt, und auch Schulkinder, die sich jetzt auf dem Heimweg befanden, blieben stehen. Die Verunglückte war längst abtransportiert worden. Leona saß auf den Stufen vor dem Haus. Irgend jemand hatte ihr einen Becher Kaffee
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