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Der Verdacht

Der Verdacht

Titel: Der Verdacht
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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begriff und zögerte auch nicht zu handeln. Er untersuchte eingehend den Luzerner, desinfizierte im kochenden Wasser über dem Herd sein Taschenmesser und führte dann einen Schnitt aus, den wir als Coniotomie bezeichnen, der in Notfällen manchmal angewandt werden muß und bei dem man über dem Kehlkopf, zwischen dem Adamsapfel und dem Ringknorpel mit quergestelltem Messer einsticht, um Luft zu schaffen. Nicht dieser Eingriff war entsetzlich, Hans, der mußte nun wohl mit dem Taschenmesser gemacht werden; sondern das Grauenhafte war etwas anderes, es spielte sich gleichsam zwischen den beiden in ihren Gesichtern ab. Wohl war der Verunglückte schon fast betäubt vor Atemnot, aber noch waren seine Augen offen, ja weit aufgerissen, und so mußte er noch alles bemerken, was geschah, wenn auch vielleicht wie im Traum; und als Emmenberger diesen Schnitt ausführte, mein Gott, Hans, hatte er die Augen ebenfalls weit aufgerissen, sein Gesicht verzerrte sich; es war plötzlich, als breche aus diesen Augen etwas Teuflisches, eine Art übermäßiger Freude, zu quälen, oder wie man dies sonst nennen soll, daß ich eine menschliche Angst empfand, wenn auch nur für eine Sekunde; denn schon war alles vorbei. Doch glaube ich, das hat niemand außer mir empfunden; denn die andern wagten nicht hinzusehen. Ich glaube auch, daß dies zum großen Teil Einbildung ist, was ich erlebte, daß die finstere Hütte und das unheimliche Licht an diesem Abend das ihre zu dieser Täuschung beigetragen haben; merkwürdig am Vorfall ist nur, daß später der Luzerner, dem Emmenberger durch die Coniotomie das Leben rettete, niemals mehr mit diesem gesprochen hat, ja ihm kaum dankte, was ihm von vielen übelgenommen wurde. Über Emmenberger hingegen hat man sich seitdem immer anerkennend geäußert, er galt als ganz großes Lieht. Seine Laufbahn war seltsam. Wir hatten geglaubt, er werde Karriere machen, aber es lag ihm nichts daran. Er studierte viel und wild durcheinander. Die Physik, die Mathematik, nichts schien ihn zu befriedigen; auch in philosophischen und theologischen Vorlesungen wurde er gesehen. Das Examen war glänzend, doch übernahm er später nie eine Praxis, arbeitete in Stellvertretungen, auch bei mir, und ich muß zugeben, die Patienten waren begeistert von ihm, außer einigen, die ihn nicht mochten. So führte er ein unruhiges und einsames Leben, bis er endlich auswanderte; er veröffentlichte seltsame Traktate, so eine Schrift über die Berechtigung der Astrologie, die etwas vom Sophistischsten ist, was ich je gelesen habe. Soweit ich informiert bin, hatte niemand zu ihm Zugang, auch wurde er ein zynischer, unzuverlässiger Patron, um so unangenehmer, weil sich seinem Witz niemand gewachsen zeigte. Verwundert hat es uns nur, daß er in Chile plötzlich so anders wurde, was für eine nüchterne und wissenschaftliche Arbeit er dort drüben leistete; das muß durchaus am Klima liegen, oder an der Umgebung. In der Schweiz ist er ja wieder gleich der alte geworden, der er von jeher gewesen ist.»
    Hoffentlich habe er das Traktat über die Astrologie auf bewahrt, sagte Bärlach, als Hungertobel geendet hatte.
    Er könne es ihm morgen mitbringen, antwortete der Arzt.
    Das sei also die Geschichte, meinte der Kommissär nachdenklich.
    «Du siehst», sagte Hungertobel, «ich habe vielleicht doch in meinem Leben zuviel geträumt.»
    «Träume lügen nicht», entgegnete Bärlach.
    «Vor allem die Träume lügen», sagte Hungertobel. «Aber du mußt mich entschuldigen, ich habe zu operieren», und damit erhob er sich von seinem Stuhl.
    Bärlach reichte ihm die Hand. «Ich will hoffen, keine Coniotomie, oder wie du das nennst.»
    Hungertobel lachte. «Einen Leistenbruch, Hans; der ist mir sympathischer, wenn es auch, offen gesagt, schwerer ist. Doch jetzt mußt du Ruhe haben. Unbedingt. Du hast nichts nötiger als einen zwölfstündigen Schlaf.»

Gulliver
    D och schon gegen Mitternacht wachte der Alte auf, als vom Fenster her ein leises Geräusch kam und kalte Nachtluft ins Krankenzimmer strömte.
    Der Kommissär machte nicht sofort Licht, sondern überlegte sich, was denn eigentlich vor sich gehe. Endlich erriet er, daß der Rolladen langsam nach oben geschoben wurde. Die Dunkelheit, die ihn umgab, wurde aufgehellt, schemenhaft blähten sich die Vorhänge im ungewissen Licht, dann hörte er, wie sich der Rolladen wieder vorsichtig nach unten bewegte. Aufs neue umgab ihn die undurchdringliche Finsternis der Mitternacht, doch spürte er, wie
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