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Der Verdacht

Der Verdacht

Titel: Der Verdacht
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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ein Mensch. Also war Nehle wie alle Menschen. Das ist ein perfider Syllogismus, doch kann niemand gegen ihn aufkommen», antwortete der Riese und ließ Bärlach nicht aus den Augen. Nichts in seinem mächtigen Gesicht verriet, was er denken mochte.
    «Ich nehme an, du wirst Nehles Bild im ‹Life› gesehen haben, Kommissar», fuhr der Jude fort. «Es ist das einzige Bild, das von ihm existiert. So sehr man suchte auf dieser schönen Welt, nie ist ein anderes zum Vorschein gekommen. Das ist um so peinlicher, als ja auf dem berühmten Bild nicht viel von diesem sagenhaften Folterknecht zu erkennen ist.»
    «Nur ein Bild gibt es also», sagte Bärlach nachdenklich. «Wie ist das möglich?»
    «Der Teufel sorgt für die Auserwählten seiner Gemeinde besser, als es der Himmel für die seinen tut, und ließ verschiedene Umstände Zusammenkommen», antwortete der Jude spöttisch. «In der Liste der SS, wie sie jetzt zum Gebrauch der Kriminalogie in Nürnberg aufbewahrt wird, ist Nehle nicht eingetragen, sein Name befindet sich auch nicht in einem anderen Verzeichnis; er wird der SS nicht angehört haben. Die offiziellen Berichte aus dem Lager Stutthof an das SS-Führerhauptquartier erwähnen seinen Namen nie, auch in den beigelegten Tabellen über den Stand des Personals ist er unterschlagen. Es haftet dieser Gestalt, die ungezählte Opfer auf dem ruhigen Gewissen hat, etwas Legendenhaftes und Illegales an, als ob sich auch die Nazis ihrer geschämt hätten. Und doch lebte Nehle, und niemand hat je gezweifelt, daß er existierte, nicht einmal die ausgekochtesten Atheisten; denn an einen Gott, der die teuflischsten Qualen ausheckt, glaubt man am schnellsten. So haben wir denn dazumal in den Konzentrationslagern, die Stutthof gewiß in nichts nachstanden, immer von ihm gesprochen, wenn auch mehr wie von einem Gerücht als von einem der bösesten und unbarmherzigsten Engel in diesem Paradies der Richter und Henker. Das wurde auch nicht besser, als sich der Nebel zu lichten begann. Vom Lager selbst war niemand mehr vorhanden, den man hätte ausfragen können. Stutthof liegt bei Danzig. Die wenigen Häftlinge, welche die Torturen überstanden, wurden von der SS niedergemacht, als die Russen kamen, die dafür an den Wärtern die Gerechtigkeit vollzogen und sie aufknüpften: Nehle jedoch befand sich nicht unter den Galgenvögeln, Kommissar. Er mußte vorher das Lager verlassen haben.»
    «Der wurde doch gesucht», sagte Bärlach.
    Der Jude lachte: «Wer wurde damals nicht gesucht, Bärlach! Das ganze deutsche Volk war zu einer kriminellen Affäre geworden. Doch an Nehle hätte sich kein Mensch mehr erinnert, weil sich kein Mensch mehr hätte erinnern können, seine Verbrechen wären unbekannt geblieben, wenn nicht bei Kriegsende im ‹Life› dieses Bild erschienen wäre, das du kennst, das Bild einer kunstgerechten und meisterhaften Operation mit dem kleinen Schönheitsfehler, daß sie ohne Narkose durchgeführt wurde. Die Menschheit war pflichtgemäß empört, und so fing man denn an zu suchen. Sonst hätte sich Nehle unbehelligt ins Privatleben zurückziehen können, um sich in einen harmlosen Landarzt zu verwandeln oder als Badedoktor irgendein kostspieliges Sanatorium zu leiten.»
    «Wie kam denn das ‹Life› zu diesem Bild?» fragte der Alte ahnungslos. «Das Einfachste in der Welt», antwortete der Riese gelassen. «Ich habe es ihm gegeben!»
    Bärlach schnellte mit dem Oberkörper hoch und starrte dem Juden überrascht ins Gesicht. Gulliver wisse doch mehr als die Polizei, dachte er bestürzt. Das abenteuerliche Leben, das dieser zerfetzte Riese führte, dem unzählige Juden ihre Rettung verdankten, spielte sich in Gebieten ab, wo die Fäden der Verbrechen und der ungeheuerlichsten Laster zusammenliefen. Ein Richter aus eigenen Gesetzen saß vor Bärlach, der nach eigener Willkür richtete, freisprach und verdammte, unabhängig von den Zivilgesetzbüchern und dem Strafvollzug der glorreichen Vaterländer dieser Erde.
    «Trinken wir Wodka», sagte der Jude. «So ein Schnaps tut immer gut. An den muß man sich halten, sonst verliert man auf diesem gottverlassenen Planeten noch jede süße Illusion.»
    Und er füllte die Gläser und schrie: «Es lebe der Mensch!» Dann stürzte er das Glas hinunter und sagte: «Aber wie? Das ist oft schwierig.»
    Er solle nicht so schreien, sagte der Kommissär, sonst komme die Nachtschwester. Sie seien in einem soliden Spital.
    «Die Christenheit, die Christenheit», sagte der Jude. «Sie
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