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Der Verdacht

Der Verdacht

Titel: Der Verdacht
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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sich eine Gestalt vom Fenster her ins Zimmer schob.
    «Endlich», sagte Bärlach. «Da bist du ja, Gulliver», und drehte seine Nachttischlampe an.
    Im Zimmer stand
    alten, fleckigen und zerrissenen Kaftan ein riesenhafter Jude, vom Licht der Lampe rot beschienen.
    Der Alte legte sich wieder in die Kissen zurück, die Hände hinter dem Kopf. «Ich habe mir halb gedacht, daß du mich noch diese Nacht besuchen würdest. Daß du dich auch auf die Fassadenkletterei verstehst, konnte ich mir ja vorstellen», sagte er.
    «Du bist mein Freund», erwiderte der Eingedrungene, «so bin ich gekommen.» Sein Kopf war kahl und mächtig, die Hände edel, aber alles mit fürchterlichen Narben bedeckt, die von unmenschlichen Mißhandlungen zeugten, doch hatte nichts vermocht, die Majestät dieses Gesichts und dieses Menschen zu zerstören. Der Riese stand unbeweglich mitten im Zimmer, leicht gebückt, die Hände auf den Schenkeln; geisterhaft lag sein Schatten an der Wand und an den Vorhängen, die wimperlosen, diamantenen Augen blickten mit einer unerschütterlichen Klarheit nach dem Alten.
    «Wie konntest du wissen, daß ich in Bern anwesend zu sein nötig habe?» kam es aus dem zerschlagenen, fast lippenlosen Mund, in einer umständlichen, überängstlichen Ausdrucksweise, wie von einem, der sich in zu vielen Sprachen bewegt und sich nun nicht sofort im Deutschen zurechtfindet; doch war seine Aussprache akzentlos. «Gulliver läßt keine Spur zurück», sagte er dann nach kurzem Schweigen. «Ich arbeite unsichtbar.»
    «Jeder läßt eine Spur zurück», entgegnete der Kommissär. «Die deine ist die, ich kann es dir ja sagen: Wenn du in Bern bist, läßt Feitelbach, der dich versteckt, wieder einmal im Anzeiger ein Inserat erscheinen, daß er alte Bücher und Marken verkauft. Dann hat nämlich der Feitelbach etwas Geld, denke ich.»
    Der Jude lachte: «Die große Kunst Kommissär Bärlachs besteht darin, das Einfache zu finden.»
    «Nun kennst du deine Spur», sagte der Alte. Es gebe nichts Schlimmeres als einen Kriminalisten, der seine Geheimnisse ausplaudere.
    «Für den Kommissär Bärlach werde ich meine Spur stehenlassen. Feitelbach ist ein armer Jude. Er wird es nie verstehen, ein Geschäft zu machen.»
    Damit setzte sich das mächtige Gespenst an des Alten Bett. Er griff in seinen Kaftan und holte eine große, staubige Flasche und zwei kleine Gläser hervor. «Wodka», meinte der Riese. «Wir wollen zusammen trinken, Kommissär, wir haben immer zusammen getrunken.»
    Bärlach schnupperte am Glas, er liebte bisweilen den Schnaps, doch hatte er kein gutes Gewissen, er dachte sich, daß Dr. Hungertobel große Augen machen würde, wenn er dies alles sähe: den Schnaps, den Juden und die Mitternacht, in der man doch schon längst schlafen sollte. Ein schöner Kranker, würde Hungertobel wettern und einen Spektakel veranstalten, er kannte ihn doch.
    «Wo kommt denn der Wodka her?» fragte er, als er den ersten Schluck genommen hatte. «Der ist aber gut.»
    «Aus Rußland», lachte Gulliver. «Den habe ich von den Sowjetern.»
    «Bist du denn wieder in Rußland gewesen?»
    «Mein Geschäft, Kommissar.»
    «Kommissär», verbesserte ihn Bärlach. «Im Bernischen gibt's nur Kommissäre. Hast du denn deinen scheußlichen Kaftan auch im Sowjetparadies nicht ausgezogen?»
    «Ich bin ein Jude und trage meinen Kaftan, das habe ich geschworen. Ich liebe das Nationalkostüm meines armen Volkes», antwortete Gulliver.
    «Gib mir doch noch einen Wodka», sagte Bärlach.
    Der Jude füllte die beiden Gläser.
    «Hoffentlich war die Fassadenkletterei nicht zu schwierig», meinte Bärlach stirnrunzelnd. «Das ist wieder etwas Gesetzwidriges, was du da heute nacht angestellt hast.»
    Gulliver dürfe nicht gesehen werden, gab der Jude knapp zur Antwort.
    «Um acht ist es doch schon längst dunkel, und man hätte dich hier im Salem sicher zu mir hereingelassen. Es ist ja keine Polizei da.»
    «Dann kann ich auch ebensogut fassadenklettern», entgegnete der Riese und lachte. «Es war ein Kinderspiel, Kommissar. Den Kännel hinauf und einen Mauervorsprung entlang.»
    «Es ist doch gut, daß ich pensioniert werde.» Bärlach schüttelte den Kopf. «Dann habe ich so etwas wie dich nicht mehr auf dem Gewissen. Ich hätte dich schon längst hinter Schloß und Riegel stecken sollen und dabei einen Fang getan, der mir in ganz Europa hoch angerechnet worden wäre.»
    «Du wirst es nicht tun, weil du weißt, wofür ich kämpfe», antwortete der Jude
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