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Der Verdacht

Der Verdacht

Titel: Der Verdacht
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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gesund werden!»
    Blatter kenne doch das Antiquariat in der Matte, das der Jude mit dem weißen Bart besitzt, der Feitelbach? fragte Bärlach.
    Blatter nickte: «Der mit den Briefmarken im Schaufenster, die immer die gleichen sind.»
    «Dann geh doch diesen Nachmittag dort vorbei und sag dem Feitelbach, er soll mir ‹Gullivers Reisen› ins Salem schicken. Es ist der letzte Dienst, den ich von dir verlange.»
    «Das Buch mit den Zwergen und Riesen?» wunderte sich der Polizist.
    Bärlach lachte: «Siehst du, Blatter, ich liebe eben Märchen!»
    Irgend etwas in diesem Lachen kam dem Polizisten unheimlich vor; aber er wagte nicht zu fragen.

Die Hütte
    N och am selben Mittwoch abend ließ Lutz anläuten. Hungertobel saß gerade am Bett seines Freundes und hatte sich, da er nachher operieren mußte, eine Tasse Kaffee bringen lassen; er wollte die Gelegenheit ein wenig ausnützen, Bärlach im Spital «bei sich» zu haben. Nun klingelte das Telefon und unterbrach das Gespräch der beiden.
    Bärlach meldete sich und lauschte gespannt. Nach einer Weile sagte er: «Es ist gut, Favre, schicken Sie mir noch das Material zu», und hängte auf. «Nehle ist tot», sagte er.
    «Gott sei Dank», rief Hungertobel aus, «das müssen wir feiern», und steckte sich eine «Little-Rose of Sumatra» in Brand. «Die Schwester wird wohl nicht gerade kommen.»
    «Schon am Mittag war es ihr nicht recht», stellte Bärlach fest. «Ich habe mich jedoch auf dich berufen, und sie sagte, das sehe dir ähnlich.»
    Wann denn Nehle gestorben sei, fragte der Arzt.
    Fünfundvierzig, am zehnten August. Er habe sich in einem Hamburger Hotel das Leben genommen, mit Gift, wie man feststellte, antwortete der Kommissär.
    «Siehst du», nickte Hungertobel, «jetzt ist auch der Rest deines Verdachtes ins Wasser gefallen.»
    Bärlach blinzelte nach den Rauchwolken, die Hungertobel genießerisch in Ringen und Spiralnebeln aus seinem Munde entließ. Nichts sei so schwer zu ertränken wie ein Verdacht, weil nichts so leicht immer wieder auf tauche, antwortete er endlich.
    Der Kommissär sei unverbesserlich, lachte Hungertobel, der das Ganze als einen harmlosen Spaß ansah.
    «Die erste Tugend des Kriminalisten», antwortete der Alte, und dann fragte er: «Samuel, bist du mit Emmenberger befreundet gewesen?»
    «Nein», antwortete Hungertobel, «das nicht, und soviel ich weiß, niemand von uns, die mit ihm studierten. Ich habe immer wieder über den Vorfall mit dem Bild im ‹Life› nachgedacht, Hans, und ich will dir sagen, warum es mir passierte, dieses Scheusal von einem SS-Arzt für Emmenberger zu halten; du hast dir gewiß darüber auch Gedanken gemacht. Viel sieht man ja nicht auf dem Bild, und die Verwechslung muß von etwas anderem als von einer Ähnlichkeit kommen, die sicher auch da ist. Ich habe schon lange nicht mehr an die Geschichte gedacht, nicht nur, weil sie weit zurückliegt, sondern noch mehr, weil sie scheußlich war; und man liebt es, Geschichten zu vergessen, die einem widerwärtig sind. Ich war einmal dabei, Hans, als Emmenberger einen Eingriff ohne Narkose ausführte, und das war für mich wie eine Szene, die in der Hölle vorkommen könnte, wenn es eine gibt.»
    «Es gibt eine», antwortete Bärlach ruhig. «Emmenberger hat also so etwas schon einmal gemacht?»
    «Siehst du», sagte der Arzt, «es gab damals keinen anderen Ausweg, und der arme Kerl, an dem der Eingriff unternommen werden mußte, lebt noch jetzt. Wenn du ihn siehst, wird er bei allen Heiligen schwören, Emmenberger sei ein Teufel, und das ist ungerecht, denn ohne Emmenberger wäre er nun tot. Doch, offen gestanden, ich kann ihn begreifen. Es war entsetzlich.»
    «Wie kam denn das?» fragte Bärlach gespannt.
    Hungertobel nahm den letzten Schluck aus seiner Tasse und mußte seine «Little-Rose» noch einmal anzünden. «Eine Zauberei war es nicht, um ehrlich zu sein. Wie in allen Berufen gibt's auch im unsrigen keine Zaubereien. Es brauchte nicht mehr dazu als ein Taschenmesser und Mut, auch, natürlich, Kenntnis der Anatomie. Aber wer von uns jungen Studenten besaß die nötige Geistesgegenwart schon?
    Wir waren, etwa fünf Mediziner, vom Kiental aus ins Blümlisalpmassiv gestiegen; wo wir hin wollten, weiß ich nicht mehr, ich bin nie ein großer Bergsteiger gewesen und ein noch schlechterer Geograph. Ich schätze, es war so um das Jahr 1908 herum im Juli, und es war ein heißer Sommer, das ist mir noch deutlich. Übernachtet haben wir auf einer Alp in einer Hütte. Es
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