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Die Leiden eines Chinesen in China

Die Leiden eines Chinesen in China

Titel: Die Leiden eines Chinesen in China
Autoren: Jules Verne
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Erstes Capitel.
In dem der Charakter und die Nationalität der handelnden Personen nach und nach zu Tage treten.
    »Man muß doch zugeben, daß das Leben seine guten Seiten hat! rief der eine Theilnehmer einer Tafelrunde aus, der sich mit dem Arme gegen die Marmorlehne seines Sessels stützte und seelenvergnügt eine überzuckerte Wasserlilienwurzel verzehrte.
    – Aber auch seine schlechten! bemerkte ein Anderer, unterbrochen von Hustenanfällen, da ihn die Spitze einer delicaten Haifischflosse zu ersticken drohte.
    – Werdet nur endlich Philosophen! mischte sich da eine ältere Persönlichkeit ein, auf deren Nase eine ungeheure Brille mit runden, in Holz gefaßten Gläsern ruhte. Heute denkt man zu ersticken und morgen geht Alles so glatt ab, wie ein Schluck von diesem Nektar durch die Gurgel rinnt! Das ist das Bild des Menschenlebens!«
    Mit diesen Worten leerte der sich in Alles schickende Epikuräer ein Glas des herrlichen erwärmten Weines, dessen leichte Dampfwölkchen aus einem blitzenden, metallenen Theekessel aufwirbelten.
    »Was mich betrifft, ließ sich ein vierter Tischgenosse vernehmen, so erscheint mir unser Erdenwallen nur dann beachtenswerth, wenn man nichts thut und auch die Mittel besitzt, der süßen Muße zu fröhnen!
    – Falsch! Grundfalsch! warf da der Fünfte ein. Das wahre Glück gewährt nur die Arbeit. Wer die größte Summe von Kenntnissen erwirbt, der ist damit auf dem Wege, wirklich glücklich zu sein….
    – Und zu lernen, daß er, bei Lichte besehen, doch nichts weiß.
    – Ist das nicht der Weisheit Anfang?
    – Gewiß, doch wo ist deren Ende?
    – Die Weisheit hat kein Ende! erwiderte philosophisch der Mann mit der Brille. Gesunden Menschenverstand zu besitzen, bleibt doch die höchste Befriedigung!«
    Nun wendete sich der erste Tafelgast direct an den Amphitryo, der das obere Ende des Tisches, das heißt den untergeordnetsten Platz einnahm, wie es die landesüblichen Gesetze der Höflichkeit erheischten. Theilnahmslos und etwas zerstreut, hörte dieser, ohne ein Wort dazu zu sagen, obigem Meinungsaustausche
inter pocula
zu.
    – Was denkt wohl unser liebenswürdiger Gastgeber über diese Auseinandersetzungen bei vollem Glase? Hält er das Menschenleben heutzutage für gut oder schlecht? Ist er ein Freund oder Feind desselben?
    – Pah!« antwortete der Angeredete.
    Das ist so recht eigentlich das beliebteste Wort aller gleichgiltigen Seelen. Es sagt sowohl Alles als gar nichts. Es gehört allen Sprachen an und sollte sich in jedem Wörterbuche der Erdkugel finden. Es ist etwa das »artikulirte Mundaufthun«.
    Die fünf Gäste, welche jener Gelangweilte bewirthete, stürmten jetzt aber, jeder für seine Ansicht, mit Argumenten aller Art auf ihn ein. Man wollte mit aller Gewalt seine Meinung hören. Anfänglich verweigerte er jede Antwort und sagte zuletzt nur, daß das Leben im Grunde weder gut, noch schlecht zu nennen sei. Seiner Meinung nach wäre es eine ziemlich zwecklose, im Ganzen genommen etwas unerquickliche »Erfindung«.
    »Nun da habt Ihr ganz unseren alten Freund!
    – Wie kann er nur so sprechen, da noch nicht die Falte eines Rosenblattes seine Ruhe gestört hat?
    – Und wo er noch so jung ist!
    – Jung und kerngesund!
    – Gesund und reich!
    – Sehr reich!
    – Mehr als reich!
    – Vielleicht nur zu reich!«
    Diese Ausrufe kreuzten sich wie die Raketen eines Feuerwerkes, ohne auf dem unerregbaren Gesichte des Amphitryonen auch nur ein leises Lächeln hervorzurufen. Er begnügte sich, mit den Achseln zu zucken, wie ein Mensch, der noch niemals, nicht einmal eine kurze Stunde lang, im Buche seines Lebens geblättert, ja, der noch nicht einmal dessen erste Bogen aufgeschnitten hat.
    Und doch zählte dieses Muster von Indifferentismus erst einunddreißig Sommer, erfreute sich der besten Gesundheit, besaß ein großes Vermögen, einen nicht ungebildeten Geist und natürliche Anlagen, die ihn weit über den Mittelschlag der Menschheit erhoben – mit einem Worte, er hatte Alles, was so manchem Anderen fehlt, um der Glücklichste unter der Sonne zu sein. Warum war er das nicht?
    Warum?
    Da ließ sich die ernste Stimme des Philosophen vernehmen, der gemessen sprach wie der Führer des altgriechischen Chors.
     

    »Wenn Du nicht glücklich bist, mein Freund!« sagte er. (S. 7.)
     
    »Wenn Du hiernieden nicht glücklich bist, mein Freund, sagte er, so kommt das nur daher, daß Dein Glück stets ein rein negatives war. Mit dem Glücke verhält sich’s wie mit der
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