Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Verdacht

Der Verdacht

Titel: Der Verdacht
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
Vom Netzwerk:
dem Maß seiner Verbrechen richten und nach dem Maß seiner Gerechtigkeit freisprechen. Christ, Christ, vernimm, was ein Jude dir erzählt, dessen Volk euren Heiland gekreuzigt hat und der nun mit seinem Volk von den Christen ans Kreuz geschlagen wurde: Da lag ich im Elend meines Fleisches und meiner Seele im Konzentrationslager Stutthof, in einem Vernichtungslager, wie man sie nennt, in der Nähe der altehrwürdigen Stadt Danzig, der zuliebe dieser verbrecherische Krieg ausgebrochen war, und dort ging es dann radikal zu. Jehova war fern, mit anderen Welten beschäftigt, oder er studierte an einem theologischen Problem herum, das gerade seinen erhabenen Geist in Anspruch nahm, kurz, um so übermütiger wurde sein Volk in den Tod getrieben, vergast und erschossen, je nach Laune der SS, und wie's die Witterung ergab: bei Ostwind wurde gehängt, und bei Südwind hetzte man Hunde auf Juda. Da war denn also auch dieser Doktor Nehle vorhanden, auf dessen Schicksal du so begierig bist, Mann einer sittlichen Weltordnung. Er war einer der Lagerärzte, von denen es in jedem Lager ganze Geschwüre voll gab; Schmeißfliegen, die sich mit wissenschaftlichem Eifer dem Massenmord hingaben, die Häftlinge zu Hunderten mit Luft, Phenol, Karbolsäure und was sonst noch zu diesem infernalischen Vergnügen zwischen Himmel und Erde zur Verfügung stand, abspritzten oder gar, wenn es darauf ankam, ihre Versuche am Menschen ohne Narkose ausführten, aus Not, wie sie versicherten, da der dicke Reichsmarschall ja die Vivisektion an Tieren verboten hatte. Nehle befand sich demnach nicht allein. – Es wird nun nötig sein, daß ich von ihm spreche. Ich habe mir im Verlauf meiner Reise durch die verschiedenen Lager die Peiniger genau angesehen und lernte, wie man so sagt, meine Brüder kennen. Nehle zeichnete sich in seinem Metier in vielem aus. Die Grausamkeit der andern machte er nicht mit. Ich muß zugeben, daß er den Gefangenen half, so gut dies möglich war und soweit dies in einem Lager, dessen Bestimmung darin bestand, alles zu vernichten, überhaupt noch einen Zweck hatte. Er war in einem ganz anderen Sinn als die anderen Ärzte fürchterlich, Kommissar. Seine Experimente zeichneten sich nicht durch erhöhte Quälereien aus; auch bei den andern starben die kunstvoll gefesselten Juden brüllend unter den Messern am Schock, den die Schmerzen auslösten, und nicht an der ärztlichen Kunst. Seine Teufelei war, daß er all dies mit der Zustimmung seiner Opfer ausführte. So unwahrscheinlich es ist, Nehle operierte nur Juden, die sich freiwillig meldeten, die genau wußten, was ihnen bevorstand, die sogar, das setzte er zur Bedingung, den Operationen beiwohnen mußten, um die vollen Schrecken der Tortur zu sehen, bevor sie ihre Zustimmung geben konnten, nun dasselbe zu erleiden.»
    «Wie war dies möglich?» fragte Bärlach atemlos.
    «Die Hoffnung», lachte der Riese, und seine Brust hob und senkte sich. «Die Hoffnung, Christ.» Seine Augen funkelten in einer unergründlichen, tierhaften Wildheit, die Narben seines Gesichts hoben sich überdeutlich ab, die Hände lagen gleich Tatzen auf Bärlachs Bettdecke, der zerschlagene Mund, der gierig immer neue Mengen Wodka in diesen geschändeten Leib sog, stöhnte in weltferner Trauer: «Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, wie es so schön im Korinther dreizehn heißt. Aber die Hoffnung ist die zäheste unter ihnen, das steht bei mir, dem Juden Gulliver, mit roten Malen in mein Fleisch gezeichnet. Die Liebe und der Glaube, die gingen in Stutthof zum Teufel, aber die Hoffnung, die blieb, mit der ging man zum Teufel. Die Hoffnung, die Hoffnung! Die hatte Nehle fixfertig in der Tasche und bot sie jedem, der sie haben wollte, und es wollten sie viele haben. Es ist nicht zu glauben, Kommissar, aber Hunderte ließen sich von Nehle ohne Narkose operieren, nachdem sie zitternd und totenbleich ihren Vordermann auf dem Operationstisch hatten krepieren sehen und immer noch nein sagen konnten, und dies alles auf die bloße Hoffnung hin, die Freiheit zu erlangen, wie ihnen Nehle versprach. Die Freiheit! Wie muß der Mensch sie lieben, daß er alles zu dulden gewillt ist, sie zu bekommen, so sehr, daß er auch damals in Stutthof freiwillig in die flammendste Hölle ging, nur um diesen erbärmlichen Bankert von Freiheit zu umarmen, der ihm da geboten wurde. Die Freiheit ist bald eine Dirne und bald eine Heilige, für jeden etwas anderes, für einen Arbeiter etwas anderes, für einen Geistlichen etwas anderes,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher