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Der Verdacht

Der Verdacht

Titel: Der Verdacht
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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für einen Bankier etwas anderes und für einen armen Juden in einem Vernichtungslager, wie Auschwitz, Lublin, Maidanek, Natzweiler und Stutthof, wieder etwas anderes: Da war Freiheit alles, was außerhalb dieses Lagers war, aber nicht Gottes schöne Welt, o nein, man hoffte in grenzenloser Bescheidenheit nur, wieder nach einem so angenehmen Orte wie Buchenwald oder Dachau zurückversetzt zu werden, in denen man jetzt die goldene Freiheit sah, wo man nicht Gefahr lief, vergast, sondern nur zu Tode geprügelt zu werden, wo noch ein Tausendstel Promille Hoffnung bestand, durch einen unwahrscheinlichen Zufall doch gerettet zu werden, gegenüber der absoluten Sicherheit des Todes in den Vernichtungslagern. Mein Gott, Kommissar, laß uns kämpfen, daß die Freiheit für alle die gleiche wird, daß sich keiner vor dem andern für seine Freiheit zu schämen hat! Es ist zum Lachen: die Hoffnung, in ein anderes Konzentrationslager zu kommen, trieb die Leute in Massen, oder wenigstens in größerer Zahl auf Nehles Schinderbrett; es ist zum Lachen (hier stimmte der Jude wirklich ein Hohngelächter der Verzweiflung an und der Wut), und auch ich, Christ, habe mich auf den blutigen Schragen gelegt, sah Nehles Messer und seine Zangen im Lichte des Scheinwerfers schattenhaft über mir und tauchte dann unter in die unendlich abgestuften Orte der Qualen, in diese gleißenden Spiegelkabinette der Schmerzen, die uns immer qualvoller enthüllen! Auch ich ging hinein zu ihm in der Hoffnung, doch noch einmal davonzukommen, doch noch einmal dieses gottverfluchte Lager zu verlassen; denn, da sich dieser famose Psychologe Nehle sonst als hilfsbereit und zuverlässig erwies, glaubte man ihm in diesem Punkt, wie man stets an ein Wunder glaubt, wenn die Not am größten ist. Wahrlich, wahrlich, er hat Wort gehalten! Als ich als einziger eine sinnlose Magenresektion überstand, ließ er mich gesundpflegen und schickte mich in den ersten Tagen des Februars nach Buchenwald zurück, das ich jedoch nach endlosen Transporten nie erreichen sollte; denn da kam in der Nähe der Stadt Eisleben jener schöne Maientag mit dem blühenden Flieder, unter den ich mich verkroch. – Das sind die Taten des vielgewanderten Mannes, der vor dir sitzt an deinem Bett, Kommissar, seine Leiden und seine Reisen durch die blutigen Meere des Unsinns dieser Epoche, und immer noch wird das Wrack meines Leibes und meiner Seele weitergeschwemmt durch die Strudel unserer Zeit, die Millionen um Millionen verschlingen, Unschuldige und Schuldige gleichermaßen. Aber nun ist auch die zweite Flasche Wodka leergetrunken, und es ist notwendig, daß Ahasver den Weg über die Staatsstraße des Mauervorsprungs und des Kännels zurück zum feuchten Keller in Feitelbachs Hause nimmt.»
    Der Alte jedoch ließ Gulliver, der sich erhoben hatte und dessen Schatten das Zimmer bis zur Hälfte in Dunkelheit hüllte, noch nicht gehen.
    Was Nehle denn für ein Mensch gewesen sei, fragte er, und seine Stimme war kaum mehr denn ein Flüstern.
    «Christ», sagte der Jude, der die Flaschen und die Gläser wieder in seinem schmutzigen Kaftan verborgen hatte: «Wer wüßte auf deine Frage zu antworten? Nehle ist tot, er hat sich bloß das Leben genommen, sein Geheimnis ist bei Gott, der über Himmel und Hölle regiert, und Gott gibt seine Geheimnisse nicht mehr her, nicht einmal den Theologen. Es ist tödlich, nachzuforschen, wo es nur Totes gibt. Wie oft habe ich mich bemüht, hinter die Maske dieses Arztes zu schleichen, mit dem kein Gespräch möglich war, der auch mit niemandem von der SS oder von den anderen Ärzten verkehrte, geschweige denn mit einem Häftling! Wie oft versuchte ich zu ergründen, was hinter seinen funkelnden Brillengläsern vor sich ging! Was sollte ein armer Jude wie ich tun, wenn er seinen Peiniger nie anders als mit halbverhülltem Gesicht im Operationskittel sah? Denn so, wie ich unter Lebensgefahr Nehle fotografiert habe – nichts war gefährlicher, als im Konzentrationslager zu fotografieren –, war er stets: eine in Weiß gehüllte, hagere Gestalt, die leicht gebückt und lautlos, wie aus Furcht, sich anzustecken, in diesen Baracken voll grauser Not und Jammers herumging. Er war darauf aus, vorsichtig zu sein, denke ich. Er rechnete wohl immer damit, daß eines schönen Tages der ganze infernalische Spuk der Konzentrationslager verschwinden würde – um anderswo wie ein Aussatz mit anderen Peinigern und anderen politischen Systemen aufs neue aus den Tiefen des
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