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Der Verdacht

Der Verdacht

Titel: Der Verdacht
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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der Grund.»
    «Und die moderne wissenschaftliche Kriminalistik, wo man den Verbrecher findet wie ein etikettiertes Konfitürenglas», meinte der Alte, Lutz etwas korrigierend. Wer nachrücke, wollte er noch wissen.
    «Röthlisberger», antwortete der Chef. «Er hat ja Ihre Stellvertretung schon übernommen.»
    Bärlach nickte. «Der Röthlisberger. Der wird mit seinen fünf Kindern auch froh sein über das bessere Gehalt», sagte er. «Von Neujahr an?»
    «Von Neujahr an», bestätigte Lutz.
    Noch bis Freitag also, sagte Bärlach, und dann sei er Kommissär gewesen. Er sei froh, daß er nun den Staatsdienst hinter sich habe, sowohl den türkischen als auch den bernischen. Nicht gerade, weil er jetzt mehr Zeit habe, Molière zu lesen und Balzac, was sicher auch schön sei, aber der Hauptgrund bleibe doch, daß die bürgerliche Weltordnung auch nicht mehr das Wahre sei. Er kenne sich aus in den Affären. Die Menschen seien immer gleich, ob sie nun am Sonntag in die Hagia Sophia oder ins Berner Münster gingen. Man lasse die großen Schurken laufen und stecke die kleinen ein. Überhaupt gebe es einen ganzen Haufen Verbrechen, die man nicht beachte, nur weil sie etwas ästhetischer seien als so ein ins Auge springender Mord, der überdies noch in die Zeitung komme, die aber beide aufs gleiche hinausliefen, wenn man's genau nehme und die Phantasie habe. Die Phantasie, das sei es eben, die Phantasie! Aus lauter Phantasiemangel begehe ein braver Geschäftsmann zwischen dem Aperitif und dem Mittagessen oft mit irgendeinem gerissenen Geschäft ein Verbrechen, das kein Mensch ahne und der Geschäftsmann am wenigsten, weil niemand die Phantasie besitze, es zu sehen. Die Welt sei aus Nachlässigkeit schlecht und daran, aus Nachlässigkeit zum Teufel zu gehen. Diese Gefahr sei noch größer als der ganze Stalin und alle übrigen Josephe zusammengenommen. Für einen alten Spürhund wie ihn sei der Staatsdienst nicht mehr gut. Zuviel kleines Zeug, zuviel Schnüffelei; aber das Wild, das rentiere und das man jagen sollte, die wirklich großen Tiere, meine er, würden unter Staatsschutz genommen wie im zoologischen Garten.
    Der Doktor Luzius Lutz machte ein langes Gesicht, als er diese Rede hörte; das Gespräch kam ihm peinlich vor, und eigentlich fand er es unschicklich, bei so bösartigen Ansichten nicht zu protestieren, doch der Alte war schließlich krank und Gott sei Dank pensioniert. Er müsse nun leider gehen, sagte er, den Ärger hinunterschluckend, er habe um halb zwölf noch eine Sitzung mit der Armendirektion.
    Die Armendirektion habe auch mehr mit der Polizei zu tun als mit dem Finanzdepartement, da stimme etwas nicht, bemerkte darauf der Kommissär, und Lutz mußte wieder das Schlimmste befürchten, doch zu seiner Erleichterung zielte Bärlach auf etwas anderes: «Sie können mir einen Gefallen tun, jetzt, da ich krank bin und zu nichts mehr zu gebrauchen.»
    «Aber gern», versprach Lutz.
    «Sehen Sie, Doktor, es handelt sich um eine Auskunft. Ich bin für mich privat etwas neugierig und vergnüge mich in meinem Bett mit kriminalistischen Kombinationen. Auch eine alte Katze kann das Mausen nicht lassen. Da finde ich in einem ‹Life› das Bild eines Lagerarztes der SS von Stutthof, namens Nehle. Fragen Sie doch einmal nach, ob der noch in einem Gefängnis lebe oder was sonst aus ihm geworden sei. Wir haben doch den internationalen Dienst für diese Fälle, der uns nichts kostet, seit die SS zur Verbrecherorganisation erklärt worden ist.»
    Lutz notierte sich alles.
    Er werde nachfragen lassen, versprach er, verwundert über den Spleen des Alten.
    Dann verabschiedete er sich.
    «Leben Sie wohl und werden Sie gesund», sagte er, indem er die Hand des Kommissärs schüttelte. «Noch diesen Abend will ich Ihnen Bescheid geben lassen, dann können Sie nach Herzenslust kombinieren. Der Blatter ist auch noch da und will Sie grüßen. Ich warte draußen im Wagen.»
    So kam denn der große, dicke Blatter herein, und Lutz verschwand.
    «Grüß dich, Blatter», sagte Bärlach zum Polizisten, der oft sein Chauffeur gewesen war, «das freut mich, dich zu sehen.»
    Es freue ihn auch, sagte Blatter. «Sie fehlen uns, Herr Kommissär. Überall fehlen Sie uns.»
    «Nun Blatter, jetzt kommt der Röthlisberger an meinen Platz und wird ein anderes Lied singen, stelle ich mir vor», antwortete der Alte.
    «Schade», sagte der Polizist, «ich will ja nichts gesagt haben, und der Röthlisberger ist sicher auch recht, wenn Sie nur wieder
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