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Der verbotene Fluss

Der verbotene Fluss

Titel: Der verbotene Fluss
Autoren: Susanne Goga
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Herz. Er schickt mir immer seine verlorenen Passagiere.«
    Charlotte trat in den Flur, in dem es angenehm nach Bohnerwachs und Zitrone roch. Mrs. Ingram deutete auf eine Tür. »Dort gibt es Frühstück, von sieben bis halb neun. Ihr Zimmer ist oben.«
    Charlotte erkundigte sich nach dem Preis, worauf Mrs. Ingram eine Summe in Shilling und Pence nannte, die ihr nichts sagte, bis sie sie im Kopf umgerechnet hatte. Der Preis war angemessen.
    »Zahlbar im Voraus«, fügte die Zimmerwirtin hinzu.
    Charlotte öffnete ihre Handtasche, holte die Geldbörse hervor und zählte die Münzen ab.
    »Leider kann ich Ihnen heute Abend nichts mehr zu essen anbieten, da ich Besuch erwarte. Ich zeige Ihnen das Zimmer und werde Ihnen den Weg zu einem kleinen Gasthaus in der Nachbarschaft erklären, in dem Sie als allein reisende Frau eine warme Mahlzeit bekommen.«
    Charlotte nickte dankbar und folgte Mrs. Ingram, die mit einer Petroleumlampe den Weg leuchtete, die schmale, mit einem dunkelgrünen Läufer ausgelegte Treppe in den ersten Stock hinauf. Das Haus war peinlich sauber, aber dunkel. Die Holztäfelung der Wände, die Tapeten und Möbel waren in Braun- und dunklen Grüntönen gehalten, die an einen dichten Wald erinnerten.
    Mrs. Ingram öffnete eine Tür und ließ Charlotte eintreten. Das Zimmer besaß ein Fenster, das auf den Hafen blickte, und war ebenso sauber und düster wie das übrige Haus. Selbst die Bilder an den Wänden zeigten Herbstlandschaften, die sich nahtlos in die Atmosphäre des Hauses fügten.
    Dennoch war Charlotte dankbar, für die Nacht günstig untergekommen zu sein. »Das ist sehr angenehm, Mrs. Ingram, vielen Dank. Ich würde gern etwas essen und mich dann zurückziehen.«
    Die Zimmerwirtin begleitete sie wieder ins Erdgeschoss, trat mit ihr vor die Haustür und deutete auf ein hell beleuchtetes Eckhaus, das etwa hundert Meter entfernt lag. »Sie sehen, es ist ganz in der Nähe. Wenn Sie zurückkehren, bin ich unabkömmlich. Unter diesem Blumenkübel liegt ein Schlüssel. Gehen Sie bitte leise nach oben.«
    Charlotte bedankte sich noch einmal und spazierte in der herbstlichen Dämmerung zu dem Gasthaus hinüber.
    Wie Mrs. Ingram prophezeit hatte, empfing man sie ohne Neugier, wies ihr einen angenehmen Platz am Kamin zu und bediente sie rasch und zuvorkommend. Sie bestellte eine Pastete mit einer Füllung aus Fleisch und Gemüse, die sich als durchaus wohlschmeckend erwies, und trank dazu eine kleine Kanne Tee. Als sie satt war, lehnte sie sich auf der Sitzbank zurück und gestattete sich einen Moment der Zufriedenheit.
    Hätte man ihr vor einigen Monaten gesagt, sie würde sich eine Stelle im Ausland suchen und allein den Ärmelkanal überqueren, hätte sie es nicht geglaubt. Schon der Schritt von dem kleinen Dorf in Brandenburg nach Berlin war gewaltig gewesen, doch in nichts mit diesem Sprung übers Wasser zu vergleichen.
    Charlotte bezahlte, zog ihre Jacke an und machte sich auf den Heimweg.
    Ein frischer Wind zerrte an ihrem Rock, und vom Wasser her ertönte Möwengeschrei. Sie war froh, dass sie trotz der Jahreszeit eine vergleichsweise ruhige Überfahrt erlebt hatte. Wenn richtige Herbststürme tobten, hätte sie sich sicher nicht aufs Meer gewagt.
    Die Burg ragte wie ein dunkler Schatten über der Stadt empor. Charlotte nahm sich vor, einmal im Sommer herzukommen und über die Klippen zu spazieren, die gewiss eine atemberaubende Sicht auf den Kanal boten. Vielleicht konnte man bei klarem Wetter sogar bis ans französische Ufer blicken.
    Vor dem Haus angekommen, fischte sie den Schlüssel unter dem Blumenkübel hervor und schloss die Tür auf. Sie legte ihn zurück, trat ein und wollte auf Zehenspitzen zur Treppe gehen, als ein Geräusch sie innehalten ließ. Es kam aus dem vorderen Zimmer, dessen Erkerfenster auf die Straße blickte.
    Charlotte wollte eigentlich nicht lauschen, doch die Laute, die aus dem Zimmer drangen, waren so sonderbar, dass sie unwillkürlich die Ohren spitzte.
    Sie hörte eine Frauenstimme, die in einer Art Singsang sprach. Im ersten Augenblick vermutete sie ein Gebet. Aber nein, es klang anders, irgendwie befremdlich. Charlotte spürte, wie ihr Herz heftiger schlug, und machte einen weiteren Schritt zur Treppe hin. Das Murmeln von drinnen wurde lauter, und sie konnte einzelne Sätze verstehen: »Sprich zu uns« und »Wir rufen dich«. Argwöhnisch drehte sich Charlotte zu der verschlossenen Tür um und wünschte sich, sie könnte mit den Augen das Holz durchdringen.
    Die
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