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Der verbotene Fluss

Der verbotene Fluss

Titel: Der verbotene Fluss
Autoren: Susanne Goga
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Dorking gewiss erst nach Einbruch der Dunkelheit erreichen.
    Der Zug sollte um halb sechs kommen, ließ aber auf sich warten. Andere Fahrgäste schlenderten unruhig umher, rauchten, schauten wiederholt zur Uhr hinauf oder warfen einen Blick auf den Fahrplan. Die Schatten wurden länger, und eine herbstliche Kühle vertrieb die letzte Wärme des Septembernachmittags. Ein Windstoß wirbelte Laub umher und zerrte an den Hüten der Wartenden.
    Um acht Minuten nach sechs trat der Stationsvorsteher in seiner schmucken Uniform zwischen die Fahrgäste und verkündete, der Zug werde wegen eines Unfalls an der Strecke kurz vor Dover an diesem Tag nicht mehr verkehren. Ein Pferdefuhrwerk sei auf den Gleisen verunglückt, man werde die Strecke nicht kurzfristig räumen können. Die Arbeiten bei Laternenlicht würden bis in den späten Abend andauern.
    Charlotte stand wie betäubt da. Einige Passagiere zuckten nur mit den Schultern und verließen das Bahnhofsgebäude, während sich andere zögernd umschauten. Vermutlich waren sie ähnlich verunsichert wie Charlotte.
    Sie schluckte. Ruhe bewahren, das war am wichtigsten. Sie musste eine Unterkunft für die Nacht finden und gleich am nächsten Morgen den ersten Zug nehmen. Eine Möglichkeit, ihren Arbeitgeber zu benachrichtigen, gab es nicht. Oder vielleicht doch – mit einem Telegramm? Was würde das wohl kosten? Aber das Postamt hatte sicher schon geschlossen.
    Während sie noch unschlüssig dastand, trat der Stationsvorsteher, ein freundlicher Herr mit weißem Schnurrbart, auf sie zu.
    »Kann ich Ihnen behilflich sein, Miss?«
    Charlotte schilderte ihre heikle Lage, worauf er mitfühlend nickte. »In der Tat, das Postamt hat geschlossen. Auch weiß ich nicht, ob ein Telegramm rechtzeitig angekommen wäre, wenn Ihr Ziel, wie Sie sagen, ein Stück außerhalb von Dorking liegt. Am besten nehmen Sie sich ein Zimmer. Der erste Zug morgen geht um halb neun. Ihre Fahrkarte bleibt gültig; ich werde einen Vermerk anbringen.«
    »Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte Charlotte und fasste neuen Mut. »Können Sie mir vielleicht eine Pension empfehlen, in der ich ein – günstiges Zimmer bekomme?«
    Er lächelte. »Zufällig ja, Miss. Meine verwitwete Schwester wohnt unweit vom Hafen und vermietet Zimmer an Durchreisende. Ein kräftiges Frühstück ist im Preis inbegriffen.«
    »Ich danke Ihnen vielmals.« Sie warf einen Blick auf ihre Koffer.
    »Wenn Sie das Nötige in Ihre Tasche packen, schließe ich die Koffer hier im Bahnhof für Sie ein.«
    Der Bahnhofsvorsteher wehrte ihren Dank ab, notierte Namen und Adresse seiner Schwester und trat mit Charlotte vor das Gebäude, um ihr den Weg zu erklären.
    Als sie allein auf der Straße stand, atmete sie tief durch. Der Wagen von Sir Andrew würde in Dorking vergeblich auf sie warten. Es machte keinen guten Eindruck, wenn sie schon bei der Ankunft unzuverlässig war. Hoffentlich bekam der Kutscher mit, dass ihr Zug gar nicht kommen würde. Sie schluckte und biss sich auf die Lippen. In ihren Augen brannten Tränen.
    Wie von Zauberhand durchbrach in diesem Augenblick die Sonne noch einmal die Wolken und warf einen fächerförmigen Strahl auf die Klippen jenseits des Hafens. Sie tauchte die grauen Mauern der Burg in ein goldenes Licht. Hingerissen stand Charlotte da und betrachtete die trutzigen Mauern und Türme, die von ihrem Platz aus so unversehrt und stark erschienen, als wäre das Zeitalter der Ritter nie zu Ende gegangen.
    Charlotte betätigte den Türklopfer an dem Reihenhaus aus rotem Backstein, das ihr der Bahnhofsvorsteher genannt hatte. Durch ein großes Erkerfenster neben der grün gestrichenen Haustür fiel ein schwacher Lichtschein auf die Straße.
    Mrs. Ingram entpuppte sich als korpulente Frau mittleren Alters, die schnaufend die Tür öffnete, als wäre sie die Treppe heruntergelaufen. Sie schob eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatte, und schaute Charlotte fragend an.
    »Guten Abend, Mrs. Ingram. Ich soll Sie von Ihrem Bruder, dem Stationsvorsteher, grüßen. Mein Zug ist ausgefallen, und er sagte, Sie hätten vielleicht ein Zimmer für mich.«
    Mrs. Ingram musterte sie streng. »Sie reisen allein?«
    »Ja. Ich fahre morgen weiter nach Surrey.«
    »Sie sind nicht von hier?«
    Charlotte schüttelte den Kopf und stellte sich vor.
    »Aus Deutschland? Da haben Sie eine weite Reise hinter sich.« Die Frau wirkte nun etwas nachgiebiger. »Kommen Sie herein. Martin hat ein weiches
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