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Der verbotene Fluss

Der verbotene Fluss

Titel: Der verbotene Fluss
Autoren: Susanne Goga
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Widerspruchsgeist weckte.
    »In der Tat. Ich hatte einmal das Vergnügen, mit meiner damaligen Herrschaft den Mittelrhein entlangzureisen. Es ist ein Anblick wie aus dem Märchen; dort reiht sich eine Festung an die andere, manche auf Inseln mitten im Strom, andere auf hohen Felsen und Klippen über dem Fluss. Dazu Weinberge an den sonnigen Hängen … Eine herrliche Gegend.«
    »Hm«, sagte Mrs. Ingram nur. »Trotzdem lobe ich mir unsere englischen Burgen. Dover Castle bewacht seit Jahrhunderten den Hafen, und nie haben feindliche Schiffe hier landen können.« Sie machte sich daran, die Blätter ihrer Pflanzen mit einem feuchten Tuch abzuwischen.
    Charlotte wandte sich wieder ihrem Frühstück zu und staunte insgeheim über den Lokalpatriotismus der Zimmerwirtin. Vermutlich war Mrs. Ingram nie aus England hinausgekommen und doch zutiefst davon überzeugt, dass es kein schöneres Land als das ihre geben konnte. Nun, sie hatte sich jedenfalls vorgenommen, alles mit offenen Augen zu betrachten und das neue Land nicht ständig an der Heimat zu messen. Manches würde schlechter sein, anderes besser, vieles fremd, und eben das machte die Spannung aus. Sie war geradezu begierig darauf, möglichst viel zu sehen, Eindrücke zu sammeln, neuen Menschen zu begegnen.
    Als sie zu Ende gefrühstückt hatte, verabschiedete sie sich von Mrs. Ingram, zog die Jacke an, setzte den Hut auf und griff nach ihrer Tasche. Sie standen sich im Hausflur gegenüber, und Charlotte wollte gerade zur Tür gehen, als die ältere Frau sie prüfend anschaute und dann kaum merklich den Kopf schüttelte.
    »Was ist denn, Mrs. Ingram?«, fragte Charlotte verwundert und wollte schon nach ihrem Hut tasten. »Stimmt etwas nicht?«
    »Doch, doch … Ich hatte … Es war nur ein Gefühl.« Sie machte eine flüchtige Handbewegung. »Es ist nichts. Ich wünsche Ihnen eine gute Reise.«
    Doch als Charlotte in Richtung Bahnhof ging, meinte sie, den Blick der Zimmerwirtin im Rücken zu spüren.
    Der Himmel hatte sich verdüstert, und es fiel ein leichter Nieselregen. Charlotte war zeitig aufgestanden, damit sie vor der Abfahrt des Zuges noch ein Telegramm an Sir Andrew Clayworth aufgeben konnte, um ihn über ihre verspätete Anreise in Kenntnis zu setzen. Sie hoffte zudem, dass sie in Dorking nicht allzu lange am Bahnhof warten musste, denn das Wetter wurde zunehmend ungemütlich.
    Beim Bahnhofsvorsteher bedankte sie sich noch einmal für die Hilfe, worauf er auf das Wetter zu sprechen kam und sich für den Regen entschuldigte, als trüge er persönlich die Schuld daran. »Das ist sehr ungewöhnlich, da wir zurzeit eigentlich eine lange Trockenheit erleben«, erklärte er.
    Charlotte sah ihn erstaunt an, bis ihr einfiel, dass man in Großbritannien gern und ausführlich über das Wetter sprach. »Vielleicht bekommen wir ja einen schönen Herbst.«
    Er nickte beflissen. »Das würde ich Ihnen wünschen, Miss, damit Sie unser Land von seiner besten Seite kennenlernen. Gleich kommt Ihr Zug. Gute Fahrt.«
    »Ich danke Ihnen noch einmal für Ihre Freundlichkeit. Und richten Sie Ihrer Schwester meine Grüße aus.« Sie fragte sich, ob er wusste, dass Mrs. Ingram in ihrem Haus spiritistische Sitzungen abhielt. Plötzlich erschien ihr der kurze Augenblick der Furcht, der sie am Vorabend überkommen hatte, geradezu albern. Sie war kein Mensch, der an solchen Hokuspokus glaubte, und empfand beinahe Mitleid mit der Witwe, die auf diese Weise womöglich versuchte, den verlorenen Mann von den Toten zurückzuholen.
    Ein Gepäckträger brachte ihre Koffer und wuchtete sie ins Abteil. Sie trat ans Fenster und winkte dem freundlichen Bahnhofsvorsteher noch einmal zu. Dann setzte sich der Zug langsam in Bewegung und rollte in einer Dampfwolke aus dem Bahnhof. Charlotte warf noch einen letzten Blick auf die stolze Burg und die graue Weite des Ärmelkanals, bevor sie sich setzte und bequem zurücklehnte. Die vorletzte Etappe ihrer Reise war angebrochen.
    Zuerst schaute sie aus dem Fenster und genoss den Blick auf die Landschaft, die im leichten Regen zu einem noch üppigeren Grün zu reifen schien. Die Strecke führte ein Stück an der Küste entlang, und der Kanal begleitete sie treu, bis die Schienen hinter Folkestone ins Landesinnere abbogen.
    Es war eine sanfte Gegend mit welligen Hügeln, breiten Hecken, Dörfern mit Fachwerkhäusern und großen Kirchen aus grauem Stein, neben denen sich der Zug wie ein Fremdkörper ausnahm. Viele Kirchtürme waren eckig und erinnerten mit
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