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Der verbotene Fluss

Der verbotene Fluss

Titel: Der verbotene Fluss
Autoren: Susanne Goga
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dies unter Ihrer fachkundigen Anleitung ändern wird.
    Emily ist ein gesundes und kräftiges Mädchen, was mich sehr dankbar stimmt, da sie viele Jahre kränklich gewesen ist. Diese Schwäche scheint nun zum Glück überwunden zu sein, und einer maßvollen sportlichen Betätigung, die ich auch bei Mädchen als förderlich erachte, steht nichts im Wege. Daher erwarte ich, dass regelmäßige Spaziergänge, Krocketpartien und ähnliche Betätigungen einen festen Platz in ihrem Tagesablauf finden. Neben der reinen Bewegung ist ein solcher Zeitvertreib auch geeignet, um kindliche Flausen und Träumereien zu vertreiben und Emily zu einem charakterstarken und nüchternen Mädchen zu erziehen, das sich im täglichen Leben zurechtfindet.
    Wie ich bereits erwähnte, weilt meine Frau und Emilys gute Mutter seit diesem Frühjahr nicht mehr unter uns, was für mich und meine Tochter ein schwerer Schlag gewesen ist, der seither wie ein Schatten über unserem Haus liegt. Ich hoffe jedoch, dass Sie Emily mit liebevoller Strenge und abwechslungsreichem Unterricht den Weg in die Zukunft ebnen werden.
    Über die weiteren Regeln und Grundlagen unseres Zusammenlebens werde ich Sie in Kenntnis setzen, wenn wir uns in Chalk Hill sehen. Wie vereinbart wird der Kutscher Sie am Bahnhof von Dorking abholen.
    Ich wünsche Ihnen eine angenehme Reise und verbleibe mit den besten Grüßen,
    Andrew Clayworth
    Charlotte legte den Brief beiseite und lehnte sich ans Kopfende des Bettes. Ein bisschen steif, aber nicht unfreundlich, dachte sie. Die Beschreibung des Mädchens traf wohl auf die meisten Achtjährigen zu, daran war nichts Auffälliges. Dass die Kleine um ihre Mutter trauerte, die sie erst vor wenigen Monaten verloren hatte, war ganz natürlich; mit der nötigen Güte und Umsicht würde es Charlotte sicher gelingen, dem Mädchen über die schwere Zeit hinwegzuhelfen.
    Sie steckte den Brief wieder in die Tasche, wusch sich in der Porzellanschüssel Gesicht und Hände und trocknete sich mit dem Handtuch ab, das leicht nach Lavendel roch. Dann zog sie sich bis auf die Unterwäsche aus, legte die Kleidungsstücke über Stuhl- und Sessellehne und löste ihre Frisur.
    Mit langen, gleichmäßigen Strichen bürstete Charlotte ihr aschblondes Haar und betrachtete sich dabei im Spiegel – die grauen Augen, die gerade Nase, den schön geschwungenen Mund. Sie war keine auffällige Schönheit, aber mit ihrem Aussehen immer recht zufrieden gewesen. Sie legte die Bürste beiseite, straffte sich und warf die Haare mit einer Kopfbewegung über die Schultern. Als Kind hatte sie die Haare immer offen tragen wollen und sich damit gegen ihre Mutter aufgelehnt, die strenge Zöpfe vorschrieb. Sobald sie mit ihren Schwestern allein im Zimmer war, hatte sie die Bänder gelöst und ihre Haare wild geschüttelt, bis sich Elisabeth und Frieda vor Lachen bogen. Dabei hatte sie an das Gedicht von Annette von Droste-Hülshoff gedacht.
    Ich steh’ auf hohem Balkone am Turm,
    Umstrichen vom schreienden Stare,
    Und lass’ gleich einer Mänade den Sturm
    Mir wühlen im flatternden Haare.
    Diese Zeilen hatten ihr immer besser gefallen als die letzten, die für sie wie eine Niederlage klangen.
    Nun muss ich sitzen so fein und klar,
    gleich einem artigen Kinde,
    und darf nur heimlich lösen mein Haar,
    und lassen es flattern im Winde!
    Charlotte warf ihrem Spiegelbild einen letzten Blick zu. Ja, sie war in England. Sie war angekommen.

2
    Am nächsten Morgen servierte Mrs. Ingram ein gewaltiges Früh stück, das aus Rührei, Speck, Räucherfisch und geröstetem Toast mit gesalzener Butter bestand. Dazu gab es Tee mit Milch aus einer großen, vorgewärmten Kanne.
    Charlotte genoss das Essen und schaute sich dabei verstohlen im Wohnzimmer um. Dabei wurde ihr klar, dass sie an ebenjenem Tisch saß, an dem wenige Stunden zuvor die sonderbare Geisterbeschwörung stattgefunden hatte. Sie warf ihrer Gastgeberin, die gerade die Zimmerpflanzen goss, einen Blick zu, wagte aber nicht, sie auf den vergangenen Abend anzusprechen. Denn damit hätte sie zugegeben, dass sie gelauscht und heimlich ins Wohnzimmer geschaut hatte.
    »Die Burg sieht sehr eindrucksvoll aus«, sagte Charlotte. »Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich sie gern besichtigen.«
    »Viele Besucher kommen eigens dafür nach Dover. Ich nehme an, in Deutschland gibt es auch Burgen.«
    Es klang ein wenig herablassend, als könnten diese es keinesfalls mit den englischen Gemäuern aufnehmen, was sofort Charlottes
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