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Der verbotene Fluss

Der verbotene Fluss

Titel: Der verbotene Fluss
Autoren: Susanne Goga
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Fragen zu vermeiden, hatte Charlotte erwidert, sie müsse Erfahrungen im Ausland sammeln, um ihre Schülerinnen und Schüler später besser Englisch lehren zu können.
    »Wer braucht denn Englisch? Französisch ist die Sprache der eleganten Gesellschaft«, hatte die Mutter geantwortet. »Wenn du schon einen Beruf ergreifen musst, statt zu heiraten wie deine Schwestern, kannst du ihn wenigstens in der Heimat ausüben. Es gehört sich nicht für eine junge Frau, allein ins Ausland zu reisen. Und in einer guten Stellung ergibt sich vielleicht die Gelegenheit, einen passablen jungen Mann …«
    Bevor ihre Mutter den Satz zu Ende sprechen konnte, hatte Charlotte die Tür der Stube hinter sich zugeschlagen. In den folgenden Tagen hatte die Mutter wiederholt versucht, sie umzustimmen, und ihr Vorwürfe gemacht, sie sei hartherzig und lasse sie, die doch verwitwet sei, allein zurück. Da ihre beiden verheirateten Töchter allerdings in unmittelbarer Nachbarschaft wohnten, konnte Charlotte diesen Versuch, ihr ein schlechtes Gewissen zu bereiten, nicht ernst nehmen. Sie waren nicht im Streit, aber doch in einer Missstimmung auseinandergegangen, was Charlotte bedauerte. Umgestimmt hatte es sie nicht.
    »Immer wieder ein schöner Anblick«, sagte eine tiefe, rau klingende Männerstimme neben ihr.
    Charlotte tauchte aus ihren Gedanken auf und schaute den Herrn an, der an ihre Seite getreten war. Sein dichter Schnurrbart war vom Tabak gelb verfärbt, doch ansonsten wirkte er gepflegt und lüftete den Hut, als stünde er einer Lady gegenüber.
    »Sie sind in England zu Hause?«, fragte Charlotte.
    »In der Tat. Darf ich mich vorstellen? William Hershey. Ich bin Kaufmann und weit gereist«, er machte eine vage Handbewegung in die Richtung, die hinter ihnen lag und die vermutlich Frankreich, Europa und den Rest der Welt umfassen sollte, »doch nichts rührt mein Herz wie der Anblick dieser Klippen. Sie ge statten?« Er hob die rechte Hand, in der er eine Pfeife hielt, worauf Charlotte nickte.
    »Es sieht wirklich sehr schön aus.«
    »Woher kommen Sie, wenn ich fragen darf?« Er paffte mehrfach an der Pfeife, bis sie zog, dann warf er das Zündholz über die Reling. »Ich höre einen leichten Akzent. Niederlande? Skandinavien?«
    »Charlotte Pauly. Ich komme aus Deutschland.«
    »Deutschland, ausgezeichnet. Bin öfter dort unterwegs, Berlin, Hannover, Hamburg. Gute Geschäftsleute, sparsam und gewitzt. Hamburg gefällt mir, der Hafen, die Eleganz und die feine Lebensart. Berlin ist auf seine Art auch beeindruckend, wenngleich ein bisschen ungemütlich. Kalte Pracht, wenn Sie mich verstehen. Preußische Strenge.«
    »Ich habe eine Weile dort gearbeitet«, erwiderte Charlotte.
    »Gearbeitet?« Mr. Hershey klang verwundert, als würde ihm erst in diesem Augenblick bewusst, dass Charlotte keine Lady war.
    »Als Hauslehrerin bei einer Familie.«
    »Verstehe, eine Gouvernante.« Sie meinte, eine leichte Herablassung in seiner Stimme zu hören. Charlotte war Snobismus gewöhnt und antwortete ruhig: »Ich betrachte mich vor allem als Lehrerin. Im Deutschen hat der Begriff Gouvernante etwas Altmodisches und Strenges, das nicht meinem Wesen entspricht. Viele Leute wollen ihre Kinder in ein Korsett von Anstandsregeln zwängen, das ihnen die Luft zum Atmen nimmt. Das ist nicht meine Art.«
    Mr. Hershey überraschte sie mit seinem dröhnenden Gelächter. »Das ist gut, Miss Pauly, wirklich gut. Eine Frau, die sagt, was sie denkt.«
    »Sollten das nicht alle Frauen tun?«
    »Hm, mir scheint, dass die meisten dazu erzogen werden, gerade das nicht zu tun«, erwiderte er unbekümmert. »Ich für meinen Teil habe nur Söhne, bei denen nimmt man das nicht so genau. Da gilt eine gewisse Forschheit sogar als Charakterstärke und soll tunlichst gefördert werden. Wie halten Sie es denn mit Ihren Schützlingen, wenn ich fragen darf?«
    Sie lächelte. Ein neugieriger Mann, aber nicht unsympathisch. »Nun, ich bemühe mich, die Mädchen zu Ehrlichkeit und Höflichkeit zu erziehen. Natürlich gibt es Situationen, in denen allzu große Ehrlichkeit verletzen kann. Dies zu erkennen und taktvolles Verhalten zu lehren betrachte ich als eine meiner wich tigsten Aufgaben neben der Vermittlung von Schulwissen.«
    Er nahm erneut den Hut ab. »Chapeau, Miss Pauly, Sie sind eine verständige Frau. Ich will ehrlich sein: Eigentlich bin ich ganz froh, dass meine Frau und ich nur Söhne haben. Das macht vieles einfacher. Schule, Sport, ein bisschen Raufen, sich behaupten
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