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Der verbotene Fluss

Der verbotene Fluss

Titel: Der verbotene Fluss
Autoren: Susanne Goga
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lernen, das ist doch das Wichtigste. Zwei meiner Jungen sind in die Firma eingetreten, der dritte fährt zur See. Bekommt demnächst sein Kapitänspatent. Da gibt es kein Getue, keine Empfindlichkeiten, jeder erledigt seine Arbeit und erntet den Lohn dafür.«
    Charlotte wusste nicht recht, was sie darauf erwidern sollte. »In Deutschland habe ich auch Jungen unterrichtet und gute Erfahrungen mit ihnen gemacht. Wenn man sie richtig zu nehmen weiß, sind sie fleißig und folgsam. Bei uns existiert die Sitte nicht, Jungen mit acht Jahren in ein Internat zu schicken. In England werde ich hingegen nur ein kleines Mädchen unterrichten.«
    »Darf ich fragen, in welche Gegend es Sie zieht?«
    »Nach Surrey, in die Nähe von Dorking«, entgegnete Charlotte.
    »Die Hügel von Surrey, eine reizende Landschaft mit hübschen Orten. Dort gibt es Wälder, die seit Cromwells Zeiten keine Axt gesehen haben. Sie können sich glücklich schätzen.« Er warf einen Blick auf den näher rückenden Hafen von Dover, über dem eine trutzige Burg aufragte. »Dann wünsche ich Ihnen alles Gute und hoffe, dass Sie sich in unserem Land wohlfühlen«, sagte er herzlich und lüftete zum Abschied noch einmal den Hut.
    Als Charlotte allein war, schaute sie wieder hinüber zur Felsküste und stellte sich vor, wie viele Menschen mit ganz unterschiedlichen Absichten und Hoffnungen diese Meerenge überquert hatten – fromme Mönche, die das Christentum unter den heidnischen Briten verbreiten wollten; kriegerische Normannen auf hölzernen Schiffen, bereit, das Land hinter den Kreidefelsen zu erobern; französische Soldaten, niederländische Kaufleute, Re formatoren, Flüchtlinge. Flöße, Ruderboote, stolze Segler, Lastkähne und mit Dampf betriebene Schiffe, eine nicht enden wol lende Kette, die Menschen, Waren und Waffen hin und her beförderte. Sie schloss die Augen und sah den Kanal, wie er vor Jahrhunderten gewesen war, ein schmaler Streifen Wasser und doch immer eine Gefahr, denn nicht alle Schiffe erreichten sicher ihr Ziel. Hier war vor fast achthundert Jahren das Schiff des englischen Thronfolgers gesunken. Von diesen Küsten aus waren Kriegsflotten in beide Richtungen aufgebrochen, um das verlockend nah erscheinende andere Ufer zu erobern.
    Und wonach suchte sie? Wer in die Fremde aufbrach, wollte für gewöhnlich etwas hinter sich lassen. Natürlich hätte sie weiter in Deutschland arbeiten können, doch der Drang, neu zu beginnen, war stärker gewesen. Sie wollte die Begegnung mit alten Bekannten aus Berlin verhindern, wollte an einem Ort leben, an dem es keine wissenden Blicke und tuschelnden Münder gab. Sie hatte sich für eine Stelle auf dem Land entschieden, während sie zuletzt in der Großstadt Berlin gewohnt hatte. Sie wollte alles anders machen als bisher.
    Charlotte holte tief Luft und straffte die Schultern, während sie das Gesicht in den Wind hielt. Ein neues Land, ein neuer Anfang. Ein Abenteuer.
    Das Bahnhofsgebäude, das unmittelbar am Hafen lag, besaß einen hübschen Turm, der ihm etwas Italienisches verlieh. Charlotte hatte einen Gepäckträger gefunden, der ihre schweren Koffer vom Schiff dorthin schleppte.
    Es herrschte reger Betrieb. Überall ankerten kleine und große Schiffe, Dampfer und altmodische Segler, Pferdewagen wurden be- und entladen, Passagiere stiegen in wartende Kutschen, ein Güterzug hielt pfeifend auf dem nahen Bahnsteig. Die engli schen Wörter, die an Charlottes Ohr schlugen, klangen fremd und völlig anders als die ihrer Lehrerinnen. Dies hier war kein Klassenzimmer, sondern die Wirklichkeit. Hier war sie die Fremde, deren Sprache kaum jemand verstand.
    Bevor ihr das Herz schwer werden konnte, drückte sie die Handtasche an sich, um sie im Gedränge zu schützen, und eilte hinter dem Gepäckträger her, der ihre Koffer ins Bahnhofsgebäude wuchtete. Sie gab ihm einige Pennys, die er mit einem Nicken einsteckte, bevor er in der Menge verschwand. Charlotte schaute auf den vergilbten Fahrplan, der in einem Glaskasten hing.
    Der Sekretär von Sir Andrew Clayworth, einem Parlamentsabgeordneten, der ihr künftiger Arbeitgeber sein würde, hatte ihr einen Brief mit genauen Reiseanweisungen geschickt. Sie musste von Dover aus den Zug nach Dorking in der Grafschaft Surrey nehmen, wo ein Wagen sie am Bahnhof abholen würde. Die An kunfts- und Abfahrtszeiten von Schiff und Eisenbahn waren genau aufeinander abgestimmt. Charlotte schaute besorgt auf die Uhr, da es schon später Nachmittag war. Sie würde
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