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Der verbotene Fluss

Der verbotene Fluss

Titel: Der verbotene Fluss
Autoren: Susanne Goga
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ihren Zinnen an die Bergfriede mittelalterlicher Burgen. Schafe weideten unter dem weiten Himmel. Besonders interessant fand Charlotte eine Reihe sonderbarer Bauwerke – runde Türme mit reetgedeckten Dächern, aus denen schräge weiße Spitzen wie Papiertüten ragten.
    Sie kam mit einem älteren Herrn ins Gespräch, dessen Kragen ihn als Geistlichen auswies, und erkundigte sich, was es mit diesen Gebäuden auf sich hatte.
    Der Herr, der sich als Reverend Horsley vorstellte, lächelte milde. »Das sind Hopfendarren, Miss. Die frischen Hopfenblätter werden geerntet, darin ausgebreitet und über einem Feuer getrocknet. Danach werden sie an die Brauereien geliefert.«
    »Sie sehen hübsch aus, wie Zwergenmützen«, sagte Charlotte.
    Der Reverend fragte höflich, woher sie komme, und bemerkte daraufhin: »In Ihrer Heimat wird es etwas Ähnliches wohl auch geben. Wie ich hörte, braut man in Deutschland ausgezeichnetes Bier.«
    Sie unterhielten sich angeregt, wodurch die Fahrt wie im Flug verging. Er lobte ihre Aussprache und ihren Mut, sich eine Stellung im Ausland zu suchen. »Ich begrüße es sehr, wenn Kinder von geeigneten ausländischen Erzieherinnen unterrichtet werden. Es erweitert den Horizont und verbessert die Verständigung zwischen den Völkern. Gerade wir auf unserer Insel meinen oft, im Mittelpunkt der Welt zu stehen. Ein wenig Bescheidenheit wäre nicht nur angemessen, sondern auch christlich. Wie heißt es doch im Alten Testament? ›Wo Stolz ist, da ist auch Schmach ; aber Weisheit ist bei den Demütigen.‹«
    »Ich bin sehr froh, dass ich eine Stelle in England gefunden habe. Es war nicht ganz leicht, weil es so viele Hauslehrerinnen gibt.«
    »Nach meiner Erfahrung hebt es das Ansehen einer Familie, wenn sie eine Dame aus Deutschland oder Frankreich als Gouvernante einstellt. Eine solche Verbindung ist für beide Sei ten von Vorteil, und die Kinder können nur gewinnen, wenn sie eine fremde Sprache von einer Muttersprachlerin erlernen. Außerdem gelten deutsche Gouvernanten als ausgesprochen musikalisch.«
    »Sie sind sehr freundlich, Sir«, erwiderte Charlotte. »Das macht mir Mut. Ich hoffe jedenfalls, dass man mich in Chalk Hill ebenso herzlich willkommen heißen wird.«
    Sie merkte, wie der Geistliche stutzte. »Sagten Sie Chalk Hill?«
    »Ja, das Haus von Sir Andrew Clayworth, dem Abgeordneten. Kennen Sie die Familie?«
    Der Reverend wiegte den Kopf hin und her. »Ja … Eine traurige Geschichte. Aber gut«, er rieb entschlossen seine Hände, als wollte er ein Kapitel abschließen, »›darum wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn‹, schreibt Paulus im Römerbrief. Und somit wollen wir nach vorn blicken.«
    Charlotte stimmte ihm zu, doch die Bemerkung des Geistlichen hatte sie nachdenklich gemacht.
    In Dorking fand sich ein Träger, der ihre Koffer aus dem Zug hob und auf einen Wagen lud, den er ins Gebäude schob. Als sich der Zug pfeifend wieder in Bewegung setzte und der Reverend Charlotte noch einmal durchs Fenster zuwinkte, war es, als fiele eine Tür hinter ihr zu. Nun war sie auf sich gestellt, es gab kein Zurück ins alte Leben.
    Vor dem Bahnhof wartete keine Kutsche auf sie. Sie schaute sich unschlüssig um, doch die wenigen Menschen, die unterwegs waren, achteten nicht auf sie. Charlotte wagte nicht, jemanden anzusprechen. Sie konnte kaum ein zweites Mal auf einen so zuvorkommenden Helfer wie den Stationsvorsteher in Dover hoffen. Da sie ihr Gepäck bei sich hatte, war es nicht möglich, sich vom Bahnhof zu entfernen und im Ort nach einer Fahrgelegenheit zu fragen. Also blieb ihr nichts anderes übrig als zu warten.
    Plötzlich merkte Charlotte, wie hungrig sie war; das Frühstück lag schon eine Weile zurück und hielt wohl doch nicht so lange vor. Ihre heikle Lage hinderte sie jedoch daran, ein Restaurant oder eine Bäckerei aufzusuchen, um sich für die letzte Etappe der Reise zu stärken.
    Sie stand vor dem Bahnhof, ihr Gepäck neben sich, die Tasche an sich gedrückt, und beobachtete das Kommen und Gehen. An der nächsten Ecke befand sich ein Hotel namens Star and Garter, und von dort sah sie die Rettung nahen. Ein halbwüchsiger Junge schob einen Verkaufswagen in Richtung Bahnhof und steuerte genau auf sie zu. Als er näherkam, hörte sie ihn rufen: »Rosinenbrötchen! Schinkensandwiches! Aal in Gelee, ganz frisch!«
    Die Vorstellung, um diese Tageszeit auf der Straße Aal zu essen, erschien befremdlich, doch Brötchen und Schinken waren ihr willkommen. Sie winkte den
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