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Der Vater des Attentäters (German Edition)

Der Vater des Attentäters (German Edition)

Titel: Der Vater des Attentäters (German Edition)
Autoren: Noah Hawley
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hatte. Alice Kramer. Sie war vor zwei Wochen zu mir gekommen und hatte über Schmerzen in den Beinen geklagt. Es fühle sich an, als stünden sie in Flammen, sagte sie. Vor drei Monaten hatte es angefangen. Nach ein paar Wochen war noch ein Husten dazugekommen, der erst trocken war, bald aber schon blutig wurde. Früher war sie Marathon gelaufen, jetzt strengte sie schon ein kurzer Spaziergang an.
    Ich war nicht der erste Arzt, bei dem sie Hilfe suchte. Sie war bereits bei einem Internisten, einem Neurologen und einem Lungenspezialisten gewesen. Eine gültige Diagnose stand aber noch aus, und trotz aller Bemühungen der Ärzte hatte sich an ihrer Schwäche und Kurzatmigkeit nichts ändern lassen.
    Abgesehen von ihrem Husten schien sie gesund. Ihre Lunge klang frei. Ihre rechte Hüfte war eine kleine Schwachstelle, ansonsten jedoch war mit Gelenken, Haut und Muskeln alles in Ordnung. Die Symptome, die sie aufwies, deuteten auf eine Erkrankung hin, die mit dem Nervensystem und der Lunge zu tun hatte. Das war ungewöhnlich. Konnte es das Sjögren-Syndrom sein, bei dem das körpereigene Immunsystem fälschlicherweise Flüssigkeit produzierende Drüsen angreift? Allerdings klagten Patienten mit dem Sjögren-Syndrom gewöhnlich über Augenschmerzen und einen trockenen Mund, was bei ihr beides nicht der Fall war.
    Vielleicht war es auch eine Sklerodermie, die von einer Überproduktion Kollagen verursacht wird. Das führt zu einer Verdickung der Haut und kann auch andere Organe in Mitleidenschaft ziehen. Ich ordnete Bluttests an und ging die medizinische Akte der Patientin ein weiteres Mal durch. Wenn der Rheumatologe zum letzten Hoffnungsanker wird, besteht seine Aufgabe darin, noch einmal jede Einzelheit der Krankengeschichte mit frischem Blick zu betrachten. Ich studierte ihre CT - und MRT -Aufnahmen und entdeckte auf beiden Lungenflügeln Schatten. Für sich gesehen bedeuteten sie nichts. Erst im Kontext, in dem ich sie las, besagten sie etwas. Ein weiteres Stück fügte sich ins Puzzle.
    Darauf ordnete ich eine Lungenbiopsie an. Der Bericht wies auf eine Entzündung hin. Als die Gewebeprobe zurückkam, setzte ich mich mit dem Pathologen ans Mikroskop. Und dabei entdeckte ich eine wichtige Spur: ein Granulom, ein Knötchen aus Zellen, die etwa hundertmal größer als normale Zellen sind. So etwas findet sich nur bei wenigen Krankheiten in der Lunge. Die verbreitetsten sind die Sarkoidose und die Tuberkulose, und da die Patientin keinerlei Symptome von Tuberkulose aufwies, war ich so gut wie sicher, dass sie unter einer Sarkoidose litt, einer chronischen Erkrankung, die mit einer Entzündung des Gewebes einhergeht.
    Als ich der Patientin am Nachmittag meine Diagnose mitgeteilt hatte, fing sie an zu weinen. Die Symptome waren schon vor vielen Monaten aufgetreten, und sie war bei Dutzenden von Ärzten gewesen, von denen ihr etliche hatten einreden wollen, sie bilde sich alles nur ein. Meine Aufgabe war es, den Patienten zu glauben, die zu mir kamen, alle Einzelheiten zu betrachten, die nicht zusammenzupassen schienen, und das Rätsel zu lösen.
    Die Gameshow im Fernsehen wurde von einem Nachrichtensprecher unterbrochen. Schlagzeilen liefen auf Schriftbändern durchs Bild. Krisenfarben. Keinem von uns fiel es gleich auf. Wir waren viel zu sehr mit unserem Pizzaritus beschäftigt. Der Teig war ausgerollt, Käse und Soße darauf verteilt, und ich rügte die Jungs, weil sie es mit dem Belag übertrieben hatten.
    «Ich bin zwar kein Statiker, aber dem Gewicht kann nichts Rundes, Flaches standhalten.»
    Wally erzählte uns, was er heute in der Schule gelernt hatte. Dass Frederick Douglass ein befreiter Sklave gewesen sei und George Washington Carver die Erdnuss erfunden habe.
    «Ich glaube nicht, dass er sie erfunden hat», erklärte Fran ihm.
    «Hat er sie entdeckt?»
    «Ich glaube, du musst dir deine Mitschrift noch mal anschauen», sagte ich, trank mein Bier aus und holte mir ein neues.
    Fran fiel es zuerst auf. Sie wandte sich dem Fernseher zu und sah statt grinsender Moderatoren und eifriger Kandidaten verwackelte Bilder von einer Art Kundgebung.
    «Was ist denn das?», fragte sie.
    Wir drehten die Köpfe. Auf dem Fernsehschirm waren Bilder einer politischen Veranstaltung in Los Angeles zu sehen. Eine Zuschauermenge. An den Wänden hingen rot-weiß-blaue Fahnen, und auf der Bühne stand der Präsidentschaftskandidat Seagram und hielt eine Rede. Was er sagte, war nicht zu hören, weil der Fernseher auf stumm gestellt war. Das
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