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Der Vater des Attentäters (German Edition)

Der Vater des Attentäters (German Edition)

Titel: Der Vater des Attentäters (German Edition)
Autoren: Noah Hawley
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wie er seine Stimme mit einer Kugel abgab.
    Mit sieben hatte er für sein Leben gern geschaukelt. Er hatte wild die Füße auf- und abgeschwungen, die Fersen in den Himmel gereckt und «Mehr, mehr, mehr!» geschrien. Er war ein unbändiger Junge gewesen, nicht zu stoppen und so voller Leben, dass alles um ihn herum kränklich und still wirkte. Nachts lag er zusammengerollt auf einem verworrenen Haufen aus Decken und Laken, mit verrutschtem Schlafanzug, die Stirn kraus, die Fäuste geballt. Wie ein Tornado, dem die Luft ausgegangen war. Wer war dieser Junge, und wie hatte er zu einem Mann werden können, der in Motelzimmern hockte und mit Patronen spielte? Was brachte ihn dazu, sein bequemes Leben wegzuwerfen und einen Akt der Barbarei zu begehen? Ich habe die Berichte gelesen, die Bilder studiert, doch die Antwort entzieht sich mir. Mehr als alles andere will ich es wissen.
    Ich bin sein Vater, verstehen Sie?
    Er ist mein Sohn.

 
    Eins
     
    Zu Hause

 
     
    Donnerstags war Pizzaabend bei den Allens. Mein letzter Termin war um elf Uhr vormittags, und um drei saß ich für gewöhnlich bereits im Zug zurück nach Westport, blätterte durch Patientenkarten und erledigte Telefonanrufe. Ich sah gern dabei zu, wie die Stadt nach Norden hin ausdünnte und die Ziegelbauten der Bronx von den Gleisen zurückwichen. Bäume traten an ihre Stelle, triumphierend, und gleich dem befreienden Jubel nach einer langen Zeit der Unterdrückung brach Sonnenlicht durch. Aus den Straßenschluchten wurden Täler, aus den Tälern Felder, und ich atmete langsam auf, als wäre ich einem Schicksal entronnen, das ich für unausweichlich gehalten hatte. Es war merkwürdig, schließlich war ich in New York City aufgewachsen und ein Kind von Beton und Asphalt, aber am Ende hatte ich all die rechten Winkel und das ständige Sirenengeheul nur noch als erdrückend empfunden, und so waren wir vor zehn Jahren hinaus nach Westport, Connecticut, gezogen und wurden eine typische Vorortfamilie mit den entsprechenden Hoffnungen und Träumen.
    Ich bin Rheumatologe und war zu der Zeit Chef der Rheumatologie des Columbia Presbyterian Hospital in Manhattan. Viele Leute wissen kaum, was sie sich darunter vorzustellen haben, und vermuten, dass ich vor allem mit alten Menschen und ihren Zipperlein zu tun habe. Tatsächlich jedoch gehört die Rheumatologie zur inneren Medizin und Kinderheilkunde. Der Begriff leitet sich vom griechischen Wort rhe ũ ma ab, was so viel bedeutet wie «das, was wie ein Fluss oder Strom fließt». Rheumatologen beschäftigen sich hauptsächlich mit klinischen Problemen von Gelenken, Weichteil- und Bindegewebe. Wir sind oft die letzte Zuflucht, wenn Patienten rätselhafte Symptome entwickeln, und das in fast allen Körpersystemen: Nerven, Atmung, Kreislauf. Der Rheumatologe wird immer dann gerufen, wenn eine Diagnose schwerfällt.
    Ich bin gelernter Diagnostiker, ein Detektiv in Sachen Krankheiten, der Symptome und Testergebnisse analysiert und die bösartigsten Krankheiten und kaum fassbare Traumata aufspürt. Auch nach achtzehn Jahren faszinierte mich meine Arbeit noch, und ich nahm sie oft gedanklich mit nach Hause, grübelte vorm Eindämmern über Patientengeschichten nach und suchte nach verborgenen Mustern.
    Der 14. Juni war ein sonniger Tag, noch nicht zu heiß, doch die typische New Yorker Schwüle lag bereits in der Luft. Man konnte den ersten Hauch Feuchtigkeit riechen, der vom Schotter aufstieg, und bald würde jede Brise wie der heiße Atem eines Fremden sein. Später würde man die Hand heben und die Autoabgase wie Ölfarbe über den Himmel schmieren können. Aber im Moment war es nur ein leichter Druck, ein Rinnsal unter den Achseln.
    An jenem Abend kam ich später als gewöhnlich nach Hause. Die nachmittägliche Visite hatte unerwartet lange gedauert, und als ich aus dem Zug stieg, war es bereits kurz vor sechs. Ich ging zu Fuß vom Bahnhof nach Hause, vorbei an sorgfältig gepflegten Rasenflächen und Briefkästen mit amerikanischen Flaggen. Weiße Lattenzäune, gleichzeitig einladend und abweisend, zogen wie die Speichen eines Fahrrads am Rand meines Gesichtsfelds vorbei und vermittelten mir das Gefühl von Bewegung und Fortschreiten entlang einer Ordnung. Es war ein wohlhabender Ort, und ich war einer seiner Bürger, ein führender Rheumatologe, der an der Columbia University Vorlesungen hielt.
    Ich war noch in der Zeit vor dem Health Maintenance Organization Act Arzt geworden, vor Beginn des großen Erbsenzählens, und
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