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Der unsichtbare Zweite

Der unsichtbare Zweite

Titel: Der unsichtbare Zweite
Autoren: Carlo Fruttero
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Ekklesiastikus, Ingmar Bergman und Peppino di Capri beweisen. Im Rahmen der absoluten Verzweiflung können und müssen alle einander umarmen, ohne ethnische Grenzen.«
    Ich sah mich ohne Vorurteile um, zur Umarmung bereit, gab aber dabei gut acht, beziehungsweise hegte gegen jedermann Verdacht. In diesem bunten lärmenden Trubel wäre es für einen oder mehrere der Eigentlichen Mächte nicht schwer gewesen, sich zu tarnen. Hinter einem langen Tisch schnitten zwei junge Chinesinnen mit etwas zu breiten Gesichtern die Zitronentorte auf; mindestens ein schrilles Dutzend hochgewachsener Nigerianerinnen auf Stöckelschuhen flatterte von Gruppe zu Gruppe, wie von einem launischen Wind herum geweht, der ihnen die weiten Gewänder blähte; eine junge Frau mit einem Ring im Nabel und einem leuchtendgrünen Irokesenschnitt unterhielt sich gestikulierend mit einer sudanesischen Hausfrau; Kolumbianer und Kolumbianerinnen tanzten einen vielleicht rituellen Reigen im Uhrzeigersinn und dann andersrum, nach den Kommandos eines Armeniers, der auf einer leeren Bohnerwachsdose in der Mitte des Kreises stand. Viele Zähne waren zu sehen, viel Gelächter war zu hören, jedes Mal, wenn ein tschetschenischer Witz ins Suaheli und dann nacheinander, jeweils wieder unter Lachsalven, ins Polnische, in einen Berberdialekt, ins Georgische übersetzt wurde.
    Es war eine familiäre, lustige Atmosphäre, aber ich hörte nicht auf, gut achtzugeben, und verlor die Firstdomina, die zwischen ihren Gästen umher glitt, nicht aus den Augen. Ein kleiner Wink, ein Zwinkern hätten mir, zum Beispiel, die wahre Identität dieser algerischen Flötenspieler verraten können. Oder vielleicht war ja unter den senegalesischen Trommlern einer mit einem geschwärzten Gesicht, der von einer Londoner Großbank kam. Und wie hätte ich ausschließen sollen, dass sich im Kreis der Morraspieler aus dem Iran der Aufsichtsratsvorsitzende einer Multinationalen verbarg?
    Ich glättete mir die sehr ratlos hängenden Schnauzenden, wegen meiner Verkleidung war ich inzwischen beruhigt. Ich wirkte nicht nur wie, ich fühlte mich wie ein ruinierter, verkrachter türkischer Kaufmann, der nur noch den Gashahn aufdrehen kann. Dann kam die Firstdomina wieder zu mir und schlug mir vor, doch zur Hebung meiner Stimmung bei einem der ethnischen Tänze mitzumachen.
    »Danke«, sagte ich mit einer Verbeugung. »Ich tanzara nicht, mir gehtara nicht so gut.«
    »Aber dann trinken Sie doch wenigstens einen Becher Tee«, drängte sie beflissen.
    Was für ein Spiel spielte sie? Hatte sie einen Verdacht? Ich musste gut achtgeben. Mich wieder verbeugend, nahm ich den Papierbecher mit Minztee an und entfernte mich wie zufällig mit kleinen Schritten. Dann machte ich eine Drehung, um zu sehen, ob sie mir folgte, und stieß ganz zufällig mit dem Mädchen mit der grünen Irokesenbürste zusammen.
    »Verzeihara«, sagte ich. »Entschuldigara.«
    Sie schnitt eine Grimasse. Ihre Lider und Fingernägel waren ebenfalls grün. Sie trug ein violettes Top und ganz kurze Shorts aus einem silbrigen Material. Unter ihrem bloßen Nabel hatte sie einen geräumigen orangefarbenen Beutel um die Hüften geschlungen, und ihre weißen, glänzenden Stiefel reichten ihr bis zu den Schenkeln hinauf. Mit all diesen Attributen war sie größer als ich.
    »Albanerin?« fragte ich sie liebenswürdig.
    Zweite Grimasse, Augen nach oben verdreht. Ein schönes Mädchen, aber in dieser multiethnischen Atmosphäre hätte sie ruhig ein bisschen weniger widerborstig sein können. Allerdings kenne ich mich in den Beziehungen zwischen Albanern und Türken nicht besonders aus, vielleicht sind sie durch eine jahrhundertealte Rivalität wegen eines Flusses getrennt, vielleicht auch durch einen unerbittlichen Hass auf die Griechen, die Walachen, die Montenegriner verbrüdert oder sonst etwas. Und ich hatte im Augenblick den alten Senator Portis nicht zur Hand, der sich gewiss aus dem Stegreif an eine Schlacht aus dem 12. Jahrhundert erinnert hätte, auf die alles zurückzuführen war, einschließlich der jetzigen Feindseligkeit des Mädchens. Es gab keinen Tisch, an den ich sie zu einem klärenden Dialog hätte einladen können, und so eröffnete ich die Verhandlungen stehend.
    »Anschaffstara?« fragte ich sie, um ein wenig das Eis zu brechen. »Strichara?«
    Ihre vergoldeten Lippen formten unhörbar eine Aufforderung von starkem obszönem Gehalt, als wollte sie in der herzlichen und freien Atmosphäre hier ihr Gewerbe vergessen, das
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