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Loewinnenherz

Loewinnenherz

Titel: Loewinnenherz
Autoren: Senguel Obinger
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|7| Prolog Ein Wunder geschieht
    „ Ş engül, mein liebes Kind, ich vermisse dich so“, sagt meine Mutter.
    Ich glaube zu träumen. Meine Hand, die das Telefon hält, zittert. Noch nie in meinem ganzen Leben hat meine Mutter so etwas zu mir gesagt. Meint sie das wirklich ernst? Spielt sie mir etwas vor? „Weißt du, ich glaube, ich werde sterben.“ Ich erkenne ihre Stimme kaum wieder. Immer war sie hart, unbeugsam, voller Ungeduld. Meine Mutter hat mich niemals in die Arme genommen, noch hat sie je ein freundliches Wort zu mir gesagt. Warum das so ist, darüber habe ich mir oft den Kopf zerbrochen. Und jetzt bin ich 37 Jahre alt, meine Mutter ist dreitausend Kilometer von mir entfernt, die Verbindung ist schlecht, ihre Stimme klingt brüchig, und zum ersten Mal in meinem Leben höre ich die Worte, nach denen ich mich so viele Jahre lang gesehnt habe.
    „Bitte hilf mir! Du bist so klug. Du bist so stark. Nur du kannst mir helfen.“
    Der Augenblick könnte nicht ungünstiger sein. Ich befinde mich mitten in einer wichtigen Fortbildung, es geht um Steuerrecht, Abschlussvorbereitung und Bilanzierung, in einer halben Stunde habe ich Prüfung. Und nun dringt das Weinen meiner Mutter an mein Ohr, die weit entfernt in der Türkei in einem Krankenhaus liegt, meine Mutter, die immer so stark war, unbeugsam und dominant. Ich sehe sie wieder vor mir stehen, einen Schuh in der Hand, mit dessen spitzen Absatz sie auf mich einprügelt. Ich höre ihre Stimme, höre, wie sie mich Schlampe nennt und Hure, mit wutverzerrtem Gesicht, nur weil ich zehn Minuten länger weggeblieben war, als ich ihrer Meinung nach fürs Einkaufen hätte brauchen dürfen. Ich sehe ihr unbarmherziges |8| Gesicht, mit dem sie mich zur Schlachtbank führt, indem sie mich zu einer Ehe zwingt, die mich fast das Leben gekostet hätte. Meine Mutter hat alles getan, um mein Leben zu zerstören. Sie hat alles getan, um den herzlosen, sinnlosen Gesetzen ihrer Vorväter Genüge zu tun. Meine Mutter hat ihre Tochter einem Begriff von Ehre geopfert, in dem kein Platz ist für Menschlichkeit. Und jetzt, nachdem sie jahrelang schweigend hingenommen hat, dass ich jede Woche mindestens einmal zusammengeschlagen wurde, weil ich dem Ehemann, den sie für mich ausgesucht hatte, nicht hörig genug war, nachdem sie und mein Vater zusahen, wie ich fast umgebracht wurde und mir in meiner höchsten Not nicht beistanden, jetzt bittet sie ausgerechnet mich, an der sie niemals auch nur ein gutes Haar ließ, mich, die ihrer Meinung nach eigentlich überhaupt nicht mehr auf dieser Welt sein dürfte, um Hilfe.
    Ich bin eine Überlebende. Ich habe nicht nur Jahre des Terrors und unbeschreiblicher Gewalt überstanden. Ich habe einen Ehrenmordanschlag überlebt. Acht Schüsse feuerte mein damaliger Ehemann aus nächster Nähe auf mich ab, und wie durch ein Wunder verfehlte jede einzelne Kugel ihr Ziel. Sie verfehlten mich.
    Das alles fand mitten in Deutschland statt, in der beschaulichen Stadt Nürnberg. Das alles ist vierzehn Jahre her, und doch erscheint es mir wie gestern. Damals hatte man noch kein Wort für diese Tat, heute sind die Zeitungen voll von „Ehrenmorden“ und „Zwangsehen“. Meine eigene Mutter hat mich zu dieser Ehe gezwungen, mit einem Mann, der zur Heirat direkt aus Anatolien anreiste und den ich nur ein Mal davor gesehen hatte. Er war ein entfernter Cousin. Er sollte mein ärgster Peiniger werden.
    Ich höre meine Mutter am anderen Ende der Leitung schluchzen und möchte selbst in Tränen ausbrechen. Ich hatte geglaubt, was auch immer meiner Mutter zustoßen würde, ließe mich kalt. Noch vor wenigen Tagen habe ich zu meiner Schwägerin gesagt: „Eines Tages werden sie kommen. Sie werden kommen |9| und meine Hilfe brauchen. Aber ich werde nicht den kleinsten Finger rühren, das kannst du mir glauben.“
    Ich will meine Mutter anschreien, ich will ihr wehtun, ihr all das heimzahlen, was sie mir angetan hat. „Soll sie doch verrecken“, habe ich erst vor Kurzem noch gesagt. Aber die Worte, die jetzt aus meinem Innern aufsteigen, klingen ganz anders. Denn tief in meinem Herzen fühle ich, wie etwas in mir aufbricht, etwas Weiches, Warmes. Und die Tränen, die mir in die Augen steigen, lösen den alten Groll, die Wut und den Hass, und was übrig bleibt ist Liebe. Eine Liebe, die wir uns beide gegenseitig niemals eingestanden haben.
    „Alles wird gut, Mama“, höre ich mich sagen. „Ich werde dir helfen. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.“
    Eine
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