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Der unsichtbare Turm

Der unsichtbare Turm

Titel: Der unsichtbare Turm
Autoren: Nils Johnson-Shelton
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Sorge, ich habe Kay nichts davon erzählt.«
    Kynder klang traurig, als er sagte: »Ich auch nicht.«
    »Das ist okay. Es ist besser so. Aber das ist es nicht, worüber ich mit dir reden wollte. Es hat mich nur zum Nachdenken gebracht. Na ja, du weißt schon, darüber, wie du mich bei dir aufgenommen hast. Kannst du mir sagen, wie ich zu dir gekommen bin? Bitte!«
    Kynder seufzte und sagte: »Ich habe dich adoptiert, Art, das weißt du doch. Kays Mom und ich, wir haben dich adoptiert, und eine Weile später hat Kays Mutter uns verlassen. Das ist alles.«
    Artie atmete tief durch und sagte dann: »Ja, aber die Sache ist die, dass ich in letzter Zeit viel darüber nachgedacht habe und wirklich gerne mehr darüber wüsste. Nun ja, frag mich nicht wie, aber ich habe von Herrn Däumling gehört. Kannst du mir nicht bitte den Rest erzählen?«
    Natürlich wusste Artie nichts über Herrn Däumling, doch er musste es einfach damit versuchen. Und es funktionierte. Nach ein paar Augenblicken setzte sich Kynder auf und begann zu erzählen. Die Geschichte ging mehr oder weniger so:
    In einer klaren Septembernacht wurden Kynder und seine Exfrau durch ein furchtbar klingendes Geräusch aus Kays Babyfon geweckt. Es war ein plötzlicher, schlimmer Hustenanfall. Kynder sprang aus dem Bett und rannte in Kays Zimmer, seine Exfrau folgte ihm auf den Fersen. Kays Tür war halb geöffnet, und sie konnten den warmen Schein ihres Nachtlichts sehen, der aus dem Raum drang. Sie hustete und rang verzweifelt nach Luft.
    Doch dann hörte sie ganz abrupt auf, und das Licht, das aus ihrem Zimmer kam, wurde sehr viel heller. Das und die plötzliche Stille ließen Kynder und seine Exfrau verwundert stehen bleiben.
    Kynder holte tief Luft und fuhr fort: »Dann lachte Kay, das Licht ging aus und wir gingen in ihr Zimmer. Sie lag in ihrer Wiege, die Haare standen ihr zu Berge. Und neben ihr lagst du, wie aus dem Nichts. Ihr beide habt euch angestarrt. Es war, nun ja, es war ziemlich verwirrend, gelinde gesagt.«
    »Woher bin ich gekommen?«
    »Artie, ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung, bis heute nicht. Aber da ist noch mehr. Du hast Herrn Däumling erwähnt …«
    »Ja?«
    Kay drehte sich im Schlaf um und seufzte.
    Kynder fuhr sehr leise fort: »Wir standen unter Schock. Meine Exfrau stand neben der Wiege und umklammerte ihre Streben so fest, dass ich dachte, sie würde sie zerbrechen. Sie war mit den Nerven am Ende. Was in dieser Nacht passierte – und am darauffolgenden Tag –, veränderte sie für immer, und nicht gerade zum Guten.«
    Artie wurde das Herz schwer, als ihm klar wurde, was das bedeutete: Er hatte also tatsächlich etwas damit zu tun, dass Kays Mutter sie verlassen hatte.
    »In dieser Nacht konnten wir nicht mehr schlafen. Ich habe dich untersucht, gewickelt und dir die Flasche gegeben. Du warst ein pausbäckiger, gesunder Junge. Du und Kay, ihr schient euch gut zu verstehen, was mich ein wenig beruhigte. Kays Mom aber nicht. Wir gingen in die Küche, machten Kaffee und beschlossen, erst am Morgen die Polizei zu rufen. Ich habe keine Ahnung, warum wir sie nicht sofort gerufen haben.
    Während der Kaffee durchlief, klingelte das Telefon. Am anderen Ende war ein Mann, der sich als Herr Däumling vorstellte. Er hatte einen britischen Akzent und wollte über dich sprechen. Was konnte ich anderes sagen als ›Bitte, nur zu‹. Er sprach sofort von dir als Art Kingfisher, als wärst du bereits ein Teil der Familie. Er sagte, dass es kein Zufall sei, dass du zu uns gekommen bist – zu mir und Kay, genauer gesagt –, dass wir drei füreinander bestimmt seien. Und er sagte, dass wir bis drei Uhr nachmittags ein Express-Paket mit einigen Dokumenten bekommen würden, die es uns erleichtern würden, dich offiziell zu adoptieren und in unsere Familie aufzunehmen. Ich versuchte, ihm Fragen zu stellen, aber er hat mich ständig unterbrochen. Und als er fertig war, legte er einfach auf. Ich hatte keine Möglichkeit, ihn zurückzurufen.
    Immer noch in Schockstarre, warteten wir also. Wir holten euch aus der Wiege, fütterten euch und zogen euch an. Ich werde niemals vergessen, wie du in Kays alten Sachen aussahst, wie ein kleines Mädchen. Jedenfalls haben du und Kay den ganzen Morgen über so schön miteinander gespielt, dass es sich irgendwie wirklich so anfühlte, als wärst du ein Teil der Familie. Für mich warst du das im Grunde auch schon. Ich weiß, es hört sich seltsam an, aber es war wie ein Zauber. Von diesem Moment an liebte ich
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