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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago
Autoren: Cees Nooteboom
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anderen, früheren. Es ist ihr Blick, und das, was sie sehen, ist mit Wandern verdient, mit Gefahren, mit Glauben, sie hatten ihr Leben gewagt und alles aufgegeben, um nur ein Mal dem Heiligen nahe zu sein, seinen Reliquien; jetzt sahen sie die Stadt, die Türme der Kathedrale, am selben Tag noch würden sie durch die Puerta Francígena in die Stadt einziehen, sie würden die Stufen zur Kathedrale hinaufgehen, ihre Hand an diese leere, handförmige Stelle an der mittleren Säule des Pórtico de la Gloria legen, von der sie soviel gehört hatten, sie sollten über dem Grab des Apostels beten und vollen Ablaß erhalten. Es waren andere Menschen, mit den gleichen Gehirnen dachten sie einen anderen Gedanken. Manche Orte haben das an sich, einen Zauber, wodurch man teilhat an den Gedanken anderer, Unbekannter, Menschen, die in einer Welt lebten, die nie mehr die eigene wird.
    Niemand ist zu sehen auf dem hohen Hügel, nichts, ein ziemlich kahles Feld, eine geschlossene kleine Kirche, ein paar große Steine. Ich klettere auf einen von ihnen und spähe in die Ferne, und dann, langsam, als würde ein Schleier weggezogen, sehe ich es, unendlich fein gezeichnet, fast verborgen hinter einer Wölbung grüner Hügel und einem durchsichtigen Vorhang aus Bäumen, drei schlanke Türme, eine geträumte Vision, und ob ich es will oder nicht, durch einen Vorgang, den ich nicht deuten kann, werde ich von ihrer Freude durchströmt und stehe da, bis die Dämmerung den Hügel hinaufkriecht und die Autos unten im nebligen Tal die Scheinwerfer anmachen und in langen Lichterketten in die Stadt fahren. Jetzt bin ich da, jetzt kann ich hin.
    In alten spanischen Städten wacht man von den Glocken auf. Santiago ist nicht groß, aber es hat vierzig Kirchen, und die haben alle von Zeit zu Zeit etwas zu fragen oder zu rufen, was zwischen den Steinmauern widerhallt. Alle Mauern sind aus Stein, kann man hierauf entgegnen, und doch ist es, als wäre die Innenstadt hier steinerner als sonst irgendwo, man geht über große Granitquader, und aus Granit sind auch die Häuser und Kirchen, wenn es regnet, wie gestern, glänzt alles und lebt. Ich ging zwischenschwarzen Regenschirmen, und es schien, als wäre ein Volk von Fledermäusen unterwegs. Schmale Straßen, große, offene Plätze, wo der feine Regen eher einem Nebel glich, der die schweren Formen der Gebäude verschleierte, keine Autos, so daß das menschliche Maß das einzige ist, Stimmen und Schritte, und einmal, aus einer Gasse, traurige Klanggirlanden, eine Geschichte ohne Ende, die gaita , der galicische Dudelsack. Die Klänge drangen aus einem Gasthaus, ich hatte dort gegessen und blauroten Wein aus weißen Schalen getrunken, alles war, wie es sein sollte, ich wußte nun vom Ozean und dem Land ringsum, ich konnte mir die Gesichter und die Gesten anschauen und spürte, wie diese Stadt sie selbst war in ihrer Abgeschiedenheit vom Rest des Landes, in sich selbst geborgen, ihr Glanz an diesem Winterabend im nebligen Regen maskiert, der mich fröhlich machte und die Stadt wehmütig. Ich las La Voz de Galicia , die Lokalnachrichten, die mich nichts angingen und erst etwas angehen würden, wenn ich hier wohnte, ich las die Nachrichten aus dem fernen Spanien und dem noch ferneren Europa und hörte Gespräche in einer Sprache, die dem Portugiesischen glich und doch so anders war, und gab mich der Trägheit der Ankunft nach langer Reise hin, denn diese Reise war die Summe all meiner anderen Spanienreisen gewesen, was ich je noch über Spanien sagen würde, mußte etwas anderes werden, nie mehr würde mein unaufhörliches Staunen sich so aufschreiben lassen. Ich war ein Fremder und würde es immer bleiben, und das war auch gut so, doch ich war ein Fremder geworden, der kam, um wiederzuerkennen, was er schon kannte, und das war eine andere Geschichte.
    Julien Gracq hat (in La Forme d’une ville ) gesagt, daß derjenige, der in seiner Erinnerung eine Stadt wiedersieht, sich an ein paar Bildern von Gebäuden festhält wie ein Seemann, der Baken sucht, die ihn in den Hafen geleiten sollen. Gestern jedoch war die Stadt selbst meine Seemannserinnerung geworden, Erinnerung und Wirklichkeit zugleich, und ich hatte mich steuerlos an den Baken vorbeitreiben lassen. Vielleicht ist dies die tiefste Melancholie des Reisenden, daß sich in die Freude der Rückkehr stets etwasmischt, das sich schwerer beschreiben läßt: daß das, was man so vermißt hat, auch ohne einen weiterexistiert hat, daß man, um es wirklich bei
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