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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago
Autoren: Cees Nooteboom
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Nichts kann sich hier verändert haben, die Sonne ist durchgekommen und strahltin das eilige Wasser, die Wiesen sind beschneit mit kleinen weißen Blumen, eine alte Frau ruft etwas in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Ein runder Vorratsschuppen, gefüllt mit Maiskolben, ist noch von Hand geflochten, in was für einer Welt befinde ich mich hier, neben der meine eigene so fahl und schattenhaft wirkt? Noch eine Fußbrücke, noch ein paar Häuser, aus Samt muß diese Wiese sein, ich will in ihr liegen und dem Vogel lauschen, der andere Vögel nachahmt, aber der Führer ist unerbittlich, »nach Kilometerstein 558 verlassen wir den Feldweg und gehen nach links und dann geradeaus weiter«.
    Denkste! Du vielleicht, aber ich nicht, noch ein Mal werde ich einen Bogen schlagen, unsinnig, unüberlegt, ich will noch nicht, bin noch nicht bereit dafür, die Stadt ist zu nahe, ganz Galicien der dazugehörige Garten, ich komme, aber jetzt noch nicht, ich schlage einen weiten Kreis um die Stadt und weiß selbst nicht, ob es Ernst ist oder ein Kinderspiel, Instinkt oder eine Laune, erst will ich noch nach La Coruña, das wie ein Balkon am Ozean liegt, eine Stadt des Lichts und des Winds und der großen Fenster, die so ganz anders wirkt als der Rest von Spanien, als gehörte sie eher zum Meer als zu der großen, versteinerten Landmasse des Festlands. Schiffe und Märkte, schwungvolle Standbilder, aber auch hier darf ich nicht bleiben, das Land, das noch weiter im Westen liegt, ist wollüstig und irisch, doch die Küste, mit der es das Meer berührt, heißt La Costa de la Muerte, die Küste des Todes, und heute legt der Wind sich besonders ins Zeug, um zu erklären, warum: Als ich in Muxia angekommen bin, habe ich Mühe, mich auf den Beinen zu halten, die Fischerboote sind eingelaufen, und die Fischer hocken in den Kneipen am Kai beisammen. Vorn auf den Felsen steht eine Kirche, der Sturm läutet die Glocken, niemand braucht etwas zu tun, aber der Sturm kann kein Maß halten, ab und zu schreit er mit seinen bronzenen Stimmen, die Fischer schauen nicht auf. Küste des Todes, an den Felsen liegt ein Wrack fest, halb verrostet, weiße Peitschen schlagen darüber, Flocken wie Tausende von Hühnerfedern, das tosende Wasser leuchtet im Licht, es schmerzt in den Augen. Südlich davon liegt Finisterre, andiese Küsten trieb es den Leichnam des Apostels in seinem Boot, jemand sollte ihn finden, ein König sollte eine Kirche für ihn erbauen, er sollte als matamoros (Maurentöter) auf dem Schlachtfeld gegen die Mauren mitkämpfen, er sollte Wunder tun, und sein Name sollte auf allen Wegen nach Osten und Norden getragen werden und, mit noch größerem Glanz versehen, mit den Pilgern zurückkehren, die die Muschel aus diesem Meer auf ihren Kleidern tragen sollten, und dann sollte der Strom nicht mehr aufzuhalten sein, sogar in Schottland und Pommern sollten die Menschen ihre Häuser verlassen und hierher, ans »Ende der Erde«, pilgern, viele sollten zum erstenmal in ihrem Leben die gefährliche, leuchtende Unendlichkeit des Meeres erblicken, hier, am Kap Finisterre, finis terrae , und ihre permanente, in steter Bewegung befindliche Anwesenheit im Norden dessen, was heute Spanien ist, dem Grenzgebiet der letzten christlichen Königreiche Navarra, Aragonien, León und später Kastilien, sollte den Islam zurückdrängen bis hinter die Säulen des Herakles, nach Afrika, von wo die ersten Moslemheere einst wie eine Springflut nach Al-Andalus übergeschwappt waren.
    Jetzt kann ich meinen Kreis schließen und die Stadt umzingeln, ich fahre an den Rias Bajas, den großen Buchten entlang, die so tief in das grüne Land schneiden, an der Insel La Toja (la Toxa) vorbei, wo Frauen bei Niedrigwasser im Schlamm stehen und Muscheln suchen, dann wende ich mich landeinwärts auf ansteigenden Straßen voll weißem und gelbem Ginster, die in einem Monat von Klatschmohn, Klee, Fingerhut gesäumt sein werden, bis ich mit einem weiten Schlenker nach Osten durch Eukalyptuswälder und Äcker- und Wiesenterrassen wieder auf den Pilgerweg stoße, dort, wo inter duos fluvios, quorum unus vocatur Sar et alter Sarela, urbs Compostella sita est , wo zwischen zwei Flüssen, deren einer Sar und der andere Sarela heißt, die Stadt Compostela liegt. Nun gilt es den Berg zu besteigen, von dem aus man bei gutem Wetter die Stadt sehen kann, Monxoi, Monte del Gozo, Mons Gaudii, Berg der Freude.
    Ich stehe da und schaue, doch es sind nicht meine Augen, dieschauen, es sind die der
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