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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago
Autoren: Cees Nooteboom
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memoria de Alice de Graener, que falecio el 3-7-1985 ...« – »Pilger, sprich ein Gebet zum Angedenken an Alice de Graener, die hier am 3. Juli 1985 auf der Pilgerreise nach Santiago de Compostela starb, und zur Erinnerung an alle Pilger, die auf dem Weg dorthin starben.« Der Text steht zweimal da, auf spanisch und auf niederländisch,und darunter wieder steht unbeholfen mit Kreide auf spanisch geschrieben: »Alice, viel Glück auf deinem neuen Weg.« Ich sehe, daß es die Mauer eines Friedhofes ist, aber dort kann ich ihr Grab nicht finden. Zwei kleine Reliefs sehe ich an der Mauer, das eine stellt einen jungen Mann mit Pilgerstab dar, unterwegs nach Santiago, das andere eine junge Frau, ein Mädchen noch, auf einer Steinbank sitzend, auch ihr grübelndes, rastloses Gesicht Richtung Santiago gewandt, die Füße auf die Jakobsmuschel gestützt. Hier und da vor der Mauer ein paar Plastikblumen, ein Gedanke, eine Erinnerung an jemanden, der unterwegs war, jemanden, der nicht ankommen sollte, der irgendwoanders hinging. Der Reisende setzt seinen Weg fort und rätselt, wer sie gewesen sein mag und was wohl geschehen ist.
    Burgos, Castrojeriz, Frómista, Carrión de los Condes, Valencia de Don Juan, León, das Panteón de los Reyes, jeder Name ein Lockruf und eine Erinnerung, wie Sirenen liegen sie zu beiden Seiten des Weges und zerren an mir – doch ich habe mir nach dem Rezept des Odysseus die Ohren mit Wachs versiegelt, ich will sie nicht hören und werde sie nicht sehen, irgendwann verkaufe ich dem Teufel meine Seele um eines zusätzlichen Jahres für eine manichäische Pilgerreise willen, aber jetzt geht es nicht. Ein einziges Mal nur lasse ich mich vom Weg fortlocken, der Gesang aus der Ferne ist so alt und so orientalisch, daß ich ihm nicht widerstehen kann. Am Río Esla biege ich rechts ab, die Straße ist schmal, kurvenreich. Ochsen, Mistkarren, überall sind Leute bei der Arbeit, das Land ist fruchtbar in diesem Tal. Durch die winterliche Kleidung wirkt es nördlich, ein Mann hinter einem Pflug, eine Frau mit einem Bündel roter Erlenzweige auf dem Kopf, ein Jäger mit seinem Hund. Ich weiß, daß das, was ich gleich sehen werde, nicht in diese fast holländische Landschaft paßt, die Zier des Orients, in den Norden verirrt, aber das ist gleichzeitig der Grund, weshalb ich hierher zurückkehre, der Schock des Uneigentlichen. Nichts in dieser Landschaft bereitet das Auge darauf vor, auf die zwölf so klar gezeichneten Bögen des verlassenen Klosters San Miguel de Escalada, einst, im Jahr 913,von mozarabischen Mönchen aus Córdoba erbaut als eine der Kirchen, die wie ein Kranz um León lagen, die Königsstadt Alfons’ III . Mit geschlossenen Augen weiß ich, wie das Kloster in dieser Landschaft auftauchen wird, immer wieder unerwartet, ich weiß es, und doch muß ich dorthin. Es ist Montag, die Kirche ist also zu, der einsame Bewacher hat seinen freien Tag, aber das macht nichts, es geht mir um den Portikus, den Vorhof, den Ort, die Lage am Hügel, den weiten Kreis der Stille ringsum. Und es ist, wie es sein muß, niemand ist da, und es kommt auch keiner, andere, dieselben Krähen führen ein tausendjähriges Gespräch in einem Kreis rund um den schweren quadratischen Turm, und ich sehe, was ich sehen wollte, die zwölf schlanken Säulen, die im plötzlichen Sonnenlicht wie aus Elfenbein wirken, die elfmal wiederholte hufeisenförmige Wölbung darüber, die ich, als ich auf den Hügel geklettert bin, durch das eine kleine, glaslose Doppelfenster ( alfiz ) noch einmal sehen kann, ein arabischer Wellenschlag, vor tausend Jahren versteinert, ein Echo der Moscheen von Córdoba und Kairuan, eine Form, die ihre Erschaffer aus einer Welt mitgebracht hatten, aus der man sie vertrieben hatte, dem Kalifat der Omaijaden. Drinnen weiß ich die Kapitelle und Reliefs mit den asturischen und westgotischen Erinnerungen, vor allem jedoch die stets wiederholten Blütenmotive, die tropischen Vögel mit den Hakenschnäbeln, die stilisierten Palmblätter, Traubenbüschel, Muscheln, moslemisches Geflüster in diesem kleinen christlichen Säulenwald, eine Oase, zu der der Hirsch trinken kommt, den niemand sieht.
    Kloster San Miguel de Escalada
    Je näher man dem Ziel kommt, desto mehr Wegzeichen stehen da. Hohe, aus Stein, die alten Metallschilder, auf denen in Galicien die Ortsnamen durchgestrichen sind und auf gallego neu geschrieben, die neuen, hohen Schilder der Europäischen Gemeinschaft mit ihrer stilisierten Muschel, die
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