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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago
Autoren: Cees Nooteboom
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sich zu haben, für immer dort bleiben müßte, wo es sich befindet. Doch dadurch müßte man jemand werden, der man nicht sein kann, einer, der daheim bleibt. Der wahre Reisende lebt von seiner Zerrissenheit, von der Spannung zwischen dem Wieder-Finden und Wieder-Loslassen, und gleichzeitig ist diese Zerrissenheit die Essenz seines Lebens, er gehört nirgendwohin, dem Überall, wo er sich ständig aufhält, wird stets etwas fehlen, er ist der ewige Pilger des Fehlenden, des Verlustes, und ebenso wie die echten Pilger in dieser Stadt ist er auf der Suche nach etwas, was doch wieder weiter entfernt lag als das Grab eines Apostels oder die Küste von Finisterre, etwas, was winkt und unsichtbar ist, das Unmögliche. In dem fahlen Licht hatte ich die Figuren am Südportal betrachtet. Noch immer schuf Gott Adam mit seiner gesetzten Miene, noch immer hielt König David den Bogen an die Saiten seiner lautenartigen Harfe. Nicht eine der Falten seines Königsgewands hatte sich verschoben, vom Hals bis zu den Knöcheln fielen sie in unerbittlicher Folge auf seine schmalen gekreuzten Füße herab. Christus mit seiner mittelalterlichen Königskrone und den blinden Augen eines griechischen Gottes, die Ehebrecherin mit dem zu großen Gesicht und dem Gorgonenhaar, mit den kleinen runden Brüsten und dem Widerspruch des Totenkopfs auf dem Schoß, alle waren zum Stelldichein da, und alle, auch ich, warteten, bis der König zu spielen beginnen würde, in einem anderen Leben, einem anderen Jahrtausend, später, dereinst, wenn die Welt noch immer nicht untergegangen ist und du wieder zurückkehrst als einer, den du selbst nicht mehr erkennen würdest.
    Die riesigen Gitter am Fuße der Treppen zur Kathedrale waren geschlossen, aber ich wußte, was dort oben, hinter diesen gleichfalls geschlossenen Türen und den himmelwärts fliegenden Barockfassaden, zu sehen war, ich wußte, wie man dort hineinging durch eine Grotte voller Skulpturen, und daß zwischen all diesen Figuren aus rosa Granit eine stand, die ich als erstes sehen würde,nachdem ich die Hand in die nicht vorhandene Hand gelegt hatte, und das war der lächelnde Daniel, weil es scheint, als breche in diesem fast idiotischen Lachen eine andere Zeit an. Aus dem zwölften Jahrhundert stammt diese Skulptur des Meisters Mateo, aber sie hat sich abgewandt von der geschlossenen archaischen Erhabenheit der Figuren in Silos oder Moissac, hier geht es um etwas anderes, dieser Blick, dieses Lachen, dieses verwunderte Staunen, die Ironie, die kennen wir, es ist der Übergang von der mythischen Welt zur psychologischen, er ist schon fast einer von uns. Das Volk, das sich etwas dazu denken mußte, sagt, daß er so lacht, weil er Esther anschaut, die ihm gegenübersteht, und das ist es, für dieses Lächeln mußte es eine Erklärung geben, die in den Bereich des Erkennbaren gehörte, weil diese Figur sich selbst darstellte und nicht mehr das Sinnbild von etwas anderem war. Hier hatte jemand vor achthundert Jahren zu lachen begonnen, und er lachte noch immer, und zwar so, daß man immerzu hinschauen mußte.
    Und jetzt? Jetzt läuteten alle Glocken, ich war am Ziel meiner Wünsche angelangt und ging doch noch nicht hin. Erst Luft, erst Alameda, wo die Bäume wohnen, der große Park Susannas, der beim Hotel lag, hoch über der ihn umgebenden Landschaft, die darunter wegzufließen scheint. Ich ging über den Paseo de las Letras Gallegas, am Standbild von Rosalía de Castro vorbei, Sonnenschein, Eichen, Zypressen, Palmen, Eukalyptusse bis hoch zum Himmel, die Dichterin Galiciens saß, den Kopf in die Hand gestützt, da und lauschte, wie die anderen Dichter zwischen den Rosensträuchern, Amseln, Tauben, Drosseln, das Lied pfiffen, das Eugenio d’Ors für sie geschrieben hatte:
    En la Ría
    un astro
    se ponía:
    Rosalía
    de Castro
    de Murguía.
    Santiago de Compostela, Puerta de la Gloria, Daniel
    (Im Wasser der Ria plötzlich ein Stern: Rosalía de Castro, der Nam’ nah und fern.) Dies war ein Park, in dem man uralt werden könnte, ich aber würde hier nicht bleiben, man müßte die achtunddreißig Bände der gesammelten Werke eines vergessenen isländischen Meisters lesen, ich aber würde in die Stadt gehen, man müßte ein Gedicht von vier Zeilen schreiben und dafür ein Leben lang Zeit haben, ich aber würde mich auf die Steinstufender Plaza de los Literarios setzen und zuschauen, wie die Leute diese große, freie Fläche überquerten und an der Plaza de las Platerías um die Ecke
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