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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago
Autoren: Cees Nooteboom
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hinter dem erstarrten Rücken der Apostelfigur, die aus dem goldenen Wahnsinn der Capilla Mayor heraus in die Kirche starrt, ein Götzenbild, in spätere Zeiten verirrt. Dreimal sehe ich seine Muschel, einmal aus Gold hinter seinem Kopf wie der Strahlenkranz eines neuen Poseidon, zweimal auf dem goldglänzenden Rücken, den ich anfassen darf, und weil gerade niemand sonst da ist, der das will, kann ich über seine mächtigen Schultern hinweg in die Kirche schauen, die jetzt aussieht wie eine Lichtung in einem nebligen Wald, und dann wieder an den gedrehten Säulen des Hauptaltars empor, roter Marmor, goldüberzogenes Holz, die Farben eines Herbstes ohne späteren Winter. Die Putti, die dort hängen, sind viele Male größer als man selbst, Ungetüme sind es, an ihren riesigen Knöcheln sind die Ketten der Öllampen befestigt, und andem Blödsinn dieser Stelle erkennt man, wie sich die spanische Sakralkunst in späteren Jahrhunderten in Triumphalismus und Sentimentalität erschöpft hat, und weiß gleichzeitig, daß dieses Gebäude damit fertig wird, daß es diesen vergoldeten Überfluß leicht erträgt, weil es von einem anderen Maß regiert wird, in dem ein Prophet wie ein Verliebter lachen kann und zwischen den schlafenden Königen von damals und einst ein Heer immer derselben, immer anderer Lebender hin und her zieht wie Ebbe und Flut.
    Der Tag geht vorbei, Museen, Straßen, Geschäfte, Zeitungen, es wird ein Abend mit Mond und jagenden Wolken, man weiß nicht, wer wen jagt. Und wieder schlagen Glocken, erst dreimal, kurz, das Geräusch von Metall auf Metall, trocken, ohne Gesang, danach zwölf dröhnende Schläge, die die Stunden auf die Straße schmettern und die Nacht in zwei Teile brechen, Geisterstunde. Der Platz hüllt sich abwechselnd in Licht und Dunkel, und dadurch scheint er sich zu bewegen, er wird ein Meer und die Kirche ein Schleppboot, unterwegs nach Westen, ein Boot, das ein Land hinter sich herschleppt, ein Land wie ein Schiff, das so groß ist wie ein Land. Einst hatte Antonio Machado den Duero gefragt (Dichter fragt Fluß): ob Kastilien nicht wie der Duero stets dem Meer zuströme, das heißt dem Tode und was danach kommt, und wenn das stimmt, wird es zu dieser Stunde sichtbar, bei Puigcerdá, bei Somport, bei Irún ist nicht nur Kastilien, sondern ganz Spanien noch einmal von Europa abgebrochen, Santiago ist der Kapitän auf seinem Schleppboot, die schwarze Form der Kathedrale zieht das Schiff von Aragonien und Kastilien und allen spanischen Ländern auf den Ozean hinaus, und an der Reling steht, betend und trinkend und winkend, das Große Theater Spaniens, Alfons der Weise und Philipp II ., Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz, El Cid und Sancho Pansa, Averroes und Seneca, der Hadschib von Córdoba und Abraham Benveniste, Gárgoris und Habidis, Calderón de la Barca, die vertriebenen Juden und Morisken, die Scheiterhaufen der Inquisition und die ausgegrabenen Nonnen aus dem Bürgerkrieg, Velázquez und derHerzog von Alba, Francisco de Zurbarán, Pizarro und Jovellanos, Gaudí und Baroja, die Dichter von 1927, die Marionetten von Valle-Inclán und das Hündchen von Goya, Anarchisten und mitratragende Bischöfe, der kleine Diktator und die nymphomane Königin, das Kastell Penãfiel auf seinem schwefelfarbenen Hügel, die rosa Alhambra und das Tal der Toten, Freunde und Feinde, Lebende und Tote. Wo einst die Meseta lag, tobt jetzt ein Meer, das Getöse ist ohrenbetäubend, und dann, auf einmal, als stünde die Zeit still, ist es vorbei, der Reisende hört seine Schritte auf den großen Steinplatten, er sieht das Mondlicht auf den Türmen und den strengen Palästen und weiß, daß hinter diesen Verschanzungen der Vergangenheit ein anderes Spanien liegen muß, das das seine vielleicht nicht mehr kennen will oder nicht mehr erkennen kann. Sein Umweg ist hier zu Ende. Seine Spanienreise ist vorbei.
    1992
    Santiago de Compostela



P ERSONENREGISTER
    Abaelardus, Petrus 194, 195
    Abd-el-Rahman 250
    Abu Abd Allah Mohammed, genannt: Boabdil, Sultan von Granada 311, 346, 352, 353, 355
    Abu Jacob, genannt Bujaco 290
    Acedo, Diego de 91
    Achterberg, Gerrit 195
    Adorno, Theodor W. 294
    Adrianus von Utrecht (Papst Hadrian VI .) 40, 133, 231
    Alba, Herzog von 28, 411
    Albuquerque, Leonor de 28
    Alfons II ., der Keusche (Alfonso II . el Casto) 46, 48, 238, 250
    Alfons III ., der Große 238, 250, 396
    Alfons V . 252
    Alfons VI ., König von Kastilien 54, 55, 56, 57, 252, 314
    Alfons VII . 252
    Alfons VIII .
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