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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago
Autoren: Cees Nooteboom
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verschwanden. Irgendwo da oben mußte der dunkle Raum sein, in dem ich einst den Priester aufgesucht hatte, der das große Buch der Pilger in seiner Obhut hatte. Wer zu Fuß oder mit dem Fahrrad die Reise vollbracht hatte, konnte sich auf Wunsch bei ihm einen Stempel holen und wurde dann in das große Buch eingetragen. »Oft brechen die Leute dann hier in Tränen aus«, hatte er erzählt und auf einen leeren Fleck irgendwo vor seinem Schreibtisch gezeigt. Das Buch hatte ich mir auch noch ansehen dürfen, eine Art Hauptbuch, mit der Hand geschrieben. Er hatte kurz gesucht und dann einen Niederländer gefunden, einen Chemielehrer, »nicht gläubig«, Motiv: »Denken«. Das habe ihm gefallen, sagte der Priester, die verrücktesten Dinge würden als Motivation angegeben, aber »Denken« sei noch nicht oft darunter gewesen. Drei Monate würde es doch mindestens dauern, wenn einer aus den Niederlanden zu Fuß hierher komme, er selbst glaube nicht, daß er das durchhielte. Wer es geschafft habe, erhalte eine Art Diplom, damit könne man drei Tage umsonst im Hostal de los Reyes Católicos wohnen, zwar nicht gerade in den schönsten Zimmern, aber immerhin. Wer dort absteigt, hat das Gefühl, er müsse ganz allein ein Königsdrama aufführen oder zumindest eine adlige Miene aufsetzen, wenn er aus dem plateresken Portal ins Freie tritt; Gotik, Renaissance, Barock, alles fließt in diesem Gebäude zusammen, die meisten Touristen sind nicht entsprechend gekleidet und kaufen sich mit zu großen Trinkgeldern beim livrierten Portier von ihren Komplexen frei, aber wenn sie diese Klippe umschifft haben, stehen sie auf einem der schönsten Plätze der Welt. Im Rücken die verwirrende Schatzkammer ihrer befristeten Bleibe, rechts der klassisch-strenge Palacio de Rajoy, daneben die Kirche San Fructuoso mit ihren schwungvollen Barockfiguren am Dachrand, links der Palacio de Gelmírez und die Himmelfahrt der Kathedrale und jenseits der leeren Steinfläche das niedrige, archaische Colegio de San Jerónimo. Weit fühlt er sich an, dieser Platz, eine Granitfläche zwischen Granitjuwelen, infolge seiner hohen Lage sieht man nichts anderes als Ferne und Himmel. Und er ist immer schön. Schnee, Nacht, Hagel, Eis, Mond, Regen, Nebel, Sturm, Sonne – sie alle können mit der Plaza del Obradoiro tun, was sie wollen, sie verändern die Gestik, die Haltung und den Gang der Menschen durch den Biß ihrer Kälte oder Hitze, ihre Peitschenhiebe oder Verschleierung, ihr Licht oder Dunkel, sie machen den Platz leerer oder voller, eine sich fortwährend verändernde Zeichnung, zu der man gehört, sobald man dieses Geviert betritt, genauso wie die tanzenden Bilder am westlichen Himmel, bewegliches Element in einem Kunstwerk, dessen Entwurf von einem anderen stammt.
    Detail eines Kapitells von Uncastillo
    Und dann gehe ich noch ein Mal in das Buch hinein, das ich nie ausbekomme, weil ich es nicht ausbekommen will. Es ist auch nicht möglich: Je mehr man darin liest, desto dicker wird es. Hinter dem Triumph der emporschwebenden Treppen und der aus dem achtzehnten Jahrhundert stammenden Fassaden mit ihrenPilastern und Pfeileraufsätzen wartet der soviel ältere Portikus mit seinen Figuren und der Säule mit der Hand und der Wurzel Jesse und dem Apostel darüber, und ich stehe da und schaue auf all diese Gesichter und auf dieses eine Gesicht mit dem Lächeln und die kleine hockende Figur, die der Bildhauer von sich selbst geschaffen hat, und sehe, wie Mütter die Köpfe ihrer Kinder sanft an den Kopf von Meister Mateo drücken in der Hoffnung, daß der Funke überspringt, und dann gehe ich weiter, in diese andere Kirche, seine Kirche hinein, still und romanisch, ein Raum, den man nach der so weltzugewandten Demonstration des Barocks draußen nicht mehr erwartet hätte. Dieses Gebäude ist sein eigener Anachronismus, und es macht nichts. »Es sind nicht die Kirchen zu verehren, sondern das Unsichtbare, das in ihnen lebt«, hat Ernst Jünger gesagt. Das Unsichtbare, das, worüber man nicht sprechen kann, vielleicht weil die Sprache es nicht zuläßt, vielleicht weil man es nicht will, weil es so gut ist. Unbekümmert gleitet man von einer Zeit in die andere, geht durch Lichtbahnen an Seitenkapellen vorbei, in denen Ritter auf der Seite liegen, hört das Gemurmel spanischer Gebete, sieht die Gesichter der anderen, die einen nicht beachten, und denkt, wie wunderlich die zweifache Gesellschaft sich bewegender Menschen und unbeweglicher Skulpturen doch ist, steht
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