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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman
Autoren: Christina McKenna
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Weide war nicht darunter. Er sah auch im vollgestellten Spülbecken in der Küche nach, obwohl er schon wusste, dass es keinen Sinn hatte. Da stand nur Geschirr, das ervorKurzem benutzt hatte. Also konnte er da gar nicht sein. Er stand eine Weile am Fenster und starrte hinaus auf den verrosteten Trog zwischen hohen Brennnesseln – und vor seinem geistigen Auge formte sich ein Bild: das des Koffers unter Micks Bett, in dem sich die Habe seiner Tante befand. Dort musste er sein.
    Er ging die Treppe hoch, stieß die Schlafzimmertür auf und zog den Koffer hervor, er wollte das Erbstück so gerne noch einmal sehen. Die Schlösser sprangen bereitwillig auf und schickten Staubwölkchen ins Zimmer. Jamie war überrascht, wie leer der Koffer war.
    Vorsichtig nahm er ein gerahmtes Hochzeitsbild heraus, ein ähnliches wie das an der Wand, und einen mit Seide bezogenen Schmuck kasten, in dem ein gläserner Rosenkranz, eine Perlenkette, Ohrringe und ein goldener Ehering lagen. Dann war da noch ihre weiße Handtasche – dieselbe, die sie an jenem Tag im Waisenhaus getragen hatte und aus der sie das Taschentuch mit den Kleeblättern hervorgezogen hatte. Jamie konnte sich nicht dazu bringen, sie zu öffnen, aber er kniete nieder, hielt die Handtasche in beiden Händen und sagte ein kleines Gebet, bevor er sie wieder zurücklegte.
    Keine Spur von dem Teller mit dem blauen Weidenmuster. Nur noch ein altes Blatt Zeitungspapier, aufgerollt und mit einem blauen Band zusammengehalten.
    »’Ne olle Zeitung«, murmelte Jamie vor sich hin.
    Er streifte das Band ab und wunderte sich darüber, warum Alice so eine uralte, vergilbte Zeitung aufheben sollte. Nur mit Mühe entzifferte er Titel und Datum:
The Vindicator
, Donnerstag, 3. November 1934. Da wusste er, dass es die Zeitung aus dem Waisenhaus war und Alice sie aus diesem Grund aufgehoben hatte. Er beschloss, sie auf der Stelle zu verbrennen, doch dann fiel ihm in der einen Ecke eine handschriftliche Notiz auf. Er sah sich die fast unleserliche Bemerkung genauer an.
    Se heissen Jamie un Lily
Ich kann se nich behallten Tut mir leit
    Jamie strich über die Handschrift, die nur seiner Mutter gehört haben konnte. Also hatte er doch einen Namen gehabt. Auch seine kleine Schwester, die er nie kennengelernt hatte, hatte einen Namen. Er wickelte das Band wieder um die Zeitung und legte sie in den Koffer zurück.
    »Lily«, sagte er laut.
    Als er langsam die Treppe hinabstieg, wurde ihm bewusst, dass er zwar nicht den Teller, aber den Namen seiner Schwester gefunden hatte.
    »Lily«, sagte er wieder. »Heute Abend werde ich bei dir sein, Lily, so wahr ich hier stehe.«
    Auf dem Rückweg vom Altersheim Mount Carmel war Lydia zwischen Euphorie und Trauer hin- und hergerissen. Sie wollte direkt nach Hause fahren, sie brauchte Distanz und Zeit zum Nachdenken.
    Die Adresse, die Vater Finian ihr mitgeteilt hatte, war ihr bekannt. Der Nachname des Paares, das ihren Bruder adoptiert hatte, war in jedem Fall derselbe. Wie sollte sie einen Namen wie McCloone vergessen? Auf dem ganzen Rückweg gingen ihr die Worte der Hellseherin, Madame Calinda, durch den Kopf.
    Und ihr beide kommt euch nah, ob Se das nun woll’n oder nich.
    Als sie schließlich in die Einfahrt von Elmwood einbog, war sie erschöpft und konnte sich kaum aufraffen, die Haustür aufzuschließen und hineinzugehen.
    Auf der Matte lag ein kleiner weißer Umschlag. Mit eiliger Hand hatte jemand »Lydia« draufgeschrieben. Noch eine Kondolenzkarte, dachte sie müde, und riss ihn auf. Es war aber keine Karte, sondern eine kurze Notiz.
    Ich war heute Nachmittag in der Gegend und bin vorbeigekommen, um nachzusehen, wie es Ihnen geht. Lassen Sie uns doch mal essen gehen. Ich rufe Sie morgen gegen siebzehn Uhr an. David O’Connor
    Der gute Arzt. Lydia lächelte. Interessant. Doch nicht so ein kalter Fisch, wie ich dachte. Essen gehen? Das klang noch interessanter!
    Sie verstaute die Notiz sorgfältig in ihrer Handtasche und rief sich wieder in die Gegenwart zurück. Zu dem Mann – dem viel wichtigeren Mann –, der ihr geschrieben hatte.
    Der Tee hatte Zeit. Sie eilte nach oben, wo sie seine Briefe aufbewahrte. Ein kurzer Blick reichte: Ihre Vermutung war richtig gewesen. Die Adresse war dieselbe:
Farmhaus, Duntybutt, Tailorstown
.
    James McCloone war ihr Bruder. Daran konnte es keinen Zweifel mehr geben.
    Sie dachte, sie müsste in Tränen ausbrechen, aber stattdessen lachte sie – lachte lauthals.
    Jetzt wusste sie, warum sie sich ihm
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