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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman
Autoren: Christina McKenna
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Brief gelesen hatte. Niemand konnte ihr helfen. Sie war die Geisel der unerfindlichen Entscheidung, die eine junge Mutter vor langer Zeit getroffen hatte. Als sie dort in diesem muffigen Zimmer mit dem verblassten Teppich und den verwelkten Blumen saß, kam sie zu dem Schluss, dass nichts und niemand sie von dieser Gewissheit erlösen konnte, von dieser gespenstischen, verwirrenden, unverständlichen Gewissheit.
    Der Priester blätterte jetzt in einem Folianten. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen. Eine lange Pause folgte, die sie nicht durchbrechen wollte. Dann erhob sie sich. Sie wusste ja, dass es hoffnungslos war.
    Aber der Priester achtete nicht auf sie. Mit gerunzelten Brauen sah er sich eine Seite mit Zahlenkolonnen an.
    »Ich denke, Sie sollten sich setzen, Miss Devine.«
    Sie tat, wie ihr geheißen wurde.
    »Als Sie hier angekommen sind, haben Ihnen die Nonnen eine Nummer gegeben. Sie waren Nummer fünfundachtzig-W. W für weiblich. Aber direkt neben Ihrer Nummer steht noch eine andere.
    »Und?« Lydias Puls beschleunigte sich. »Was bedeutet das, Vater?«
    »Es bedeutet, dass Ihre Mutter zwei Kinder vor der Tür abgelegt hat. Es bedeutet, dass das Kind mit der Nummer sechsundachtzig-M ihr Bruder war.«

33
    Jamie hatte seine Entscheidung in Dr. Brewsters Wartezimmer getroffen, als die junge Mutter auf und ab gelaufen war.
    Am Donnerstag, dem zwölften, um sieben Uhr abends sollte es soweit sein. An einem Donnerstag war er von Alice und Mick adoptiert worden und gegen sieben Uhr waren sie in ihrem Haus und seinem neuen Leben angekommen. Der Wochentag und die Uhrzeit passten also, auch wenn er wusste, dass es nichts ändern würde. Doch würde es schließlich das Puzzle seiner Existenz lösen, falls das, was man ihm über ein Leben hiernach gesagt hatte, der Wahrheit entsprach. Er hatte so viele Jahre seines Erwachsenenlebens mit dem Versuch zugebracht, die Puzzleteile zusammenzusetzen, aber er war zu dem Schluss gekommen, dass durch die schrecklichen Ereignisse seiner Kindheit immer irgendwelche Teile fehlen würden. Nichts und niemand konnte die Liebe, die ihm als Kind verweigert worden war, wieder wettmachen.
    Als er an diesem fernen Donnerstag vom Waisenhaus zum Bauernhof gereist war, war er zum ersten Mal in seinem Leben »richtig« gewesen. Die Erinnerung an diesen Tag leuchtete wie eine kostbare Metallader in der Dunkelheit seiner frühen Jahre.
    Er konnte sich an jede Biegung der Straße, an jeden Hang dieser wunder baren Reise erinnern.
    Als Onkel Micks Auto durch die Tore des Waisenhauses gerattert war, hatte es ihn von den Schmerzen und der Einsamkeit erlöst und zu einem Heim gebracht, von dem er so oft geträumt hatte.
    Nur eine kleine Beeinträchtigung hatte es an jenem Tag gegeben. Beim Anblick der vier Jungen, die er zurückließ, hatte ihn eine Welle der Traurig keit überspült. Als das Auto anfuhr, sah er ihre unglücklichen Gesichter, die wie blasse Monde aus einem der oberen Fenster heraussahen. Er konnte sich gut vorstellen, welche Gefühle sie hinunterschluckten, als sie von dort oben so verloren auf das abfahrende Auto hinabsahen.
    Damals hatte er sich auf den Rücksitz gekniet und ihnen zugewunken, aber nur Vierundachtzig hatte kurz die Hand gehoben. Dann wurden sie von den hohen Wänden des Waisenhauses seinen Blicken entzogen, als hätte jemand mit einem Schwamm über eine Tafel gewischt – und sie und das Gefängnis, in dem sie gehalten wurden, waren nur noch Geschichte.
    Er erinnerte sich noch daran, wie er es sich auf der Rückbank bequem gemacht und über das Autofahren gestaunt hatte; und langsam war der letzte Blick auf seine Kameraden verblasst. Er saß vollkommen versunken auf den Vinylpolstern, betrachtete das Vorüberziehen einer magischen Welt hinter den Fenstern und das große schimmernde Lenkrad in den Händen seines neuen Vaters.
    Im Waisenhaus hatte er sich immer wieder ausgemalt, wie das Haus aussah, in dem er leben wollte, die Eltern, nach denen er sich sehnte und die Farm, von der er ein Teil sein wollte. Als Onkel Micks Ford Popular damals auf den Hof gefahren war und er einen Blick auf das Haus und die Tiere erhascht hatte, wusste er, dass seine Träume wahr geworden waren. Er war in seine Bilder eingetreten. Sogar der schwarze Hund auf der Schwelle, den er sich so oft vorgestellt hatte, war zum Leben erwacht.
    Seine neuen Eltern hatten ihm alles gegeben, sogar seinen Namen: James Kevin Barry Michael McCloone. Zuerst hatten sie ihn nur James genannt, aber er
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