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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman
Autoren: Christina McKenna
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hinzu.
    Er nickte und trat zur Seite, um sie einzulassen.
    Das Vestibül war überraschend hell mit cremefarbenen Wänden und einem schwarzweiß gemusterten Fußboden, das einzig Dunkle war eine schwere, mit Schnitzereien verzierte Anrichte, die auf Hochglanz poliert war und einer meterhohen Gipsfigur der Heiligen Jungfrau als Altar diente.
    Der Mönch verschwand in einem dunklen Flur und Lydia setzte sich. Es war sehr still, sie hörte nur die knarzenden Dielen unter seinen Schritten. Dann wurde eine Tür geöffnet und schnell wieder geschlossen. Nun saß sie ganz allein in der Stille der enormen Empfangshalle.
    »Miss Devine, es freut mich, Sie kennenzulernen.«
    Der junge Priester reichte ihr die Hand. »Schön, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben. Es kann ja nicht leicht für Sie gewesen sein.«
    Vater Finian hätte sich mit seinem schnellen Lächeln und seiner sorglosen Art kaum mehr von dem freudlosen Mönch unterscheiden können. Er ging ihr durch mehrere Flure und über eine Treppe voran. Sie folgte ihm langsam und nahm alles mit einer fast kriminologischen Aufmerksamkeit wahr. Dies hier, das war einmal mein Zuhause. Dieses graue, trübselige Gefängnis mit den Betonböden, der abgeblätterten Farbe, den vergitterten Fenstern. Hier gab es nichts, woran sich das Auge erfreuen konnte. Als sie den Kopf der Treppe erreicht hatte, war sie einer Ohnmacht nahe.
    »Gott sei Dank, dass ich von hier weggebracht wurde.«
    »Wie bitte? Geht es Ihnen gut?«, fragte der Priester sie.
    »Ja, vielen Dank ...« Sie hielt an, die Hand am Geländer, und starrte auf ihre weißen Fingerknöchel herab. »Ja ... mir ... geht ... es gut.« Das letzte Wort – dünn, hohl, ohne Bedeutung – fiel in die widerhallende Tiefe des Treppenhauses. Als sie dort hinuntersah, fragte sie sich, wann sie je wieder die ganze Bedeutung dieser einen freundlichen Silbe am eigenen Leib erfahren würde. Gut.
    »Mir geht es gut«, sagte sie wieder und nahm all ihren Mut zusammen.
    Vater Finian spürte ihre Traurigkeit. Er hatte diesen Gesichtsausdruck schon oft gesehen.
    »Wir nutzen diesen Teil des Gebäudes nicht mehr. Er dient nur noch zu Lagerzwecken.«
    Seine Absätze hämmerten auf dem Steinboden, als er durch den Flur voraneilte; auf einmal war er sehr resolut. Dann hielt er an, ging durch die Schlüssel an seinem Bund und öffnete eine Tür.
    »Wir sind da.« Er wartete auf sie.
    Sie ging langsam auf das Büro zu, das früher Mutter Vincent gehört hatte. Eine zerschrammte Bank stand davor und aus irgendeinem Grund hatte sie das Bedürfnis, sich dort kurz auszuruhen – vielleicht aus Respekt vor all den Kindern, die auf ihr gesessen hatten. Denn sie spürte instinktiv, dass jedes Kind, das in diesem Gebäude gelebt hatte, gequält worden war.
    Dann betraten sie ein großes Büro, ein muffiges, trübes Zimmer, in das keine Nachmittagssonne schien. Er führte sie zu einem kahlen Sofa, über das jemand in dem vergeblichen Versuch, es etwas freundlicher zu machen, eine Decke geworfen hatte. Zwischen dem Schreibtisch des Priesters und dem Sofa lag ein fadenscheiniger Teppich mit verblichenen Pfauen und Kolibris. Sie fragte sich, wie viele Dekaden er da wohl schon lag und wie viele Füße in all den vielen Jahren über ihn gegangen waren.
    Vater Finian konnte ihre Gedanken lesen. Seit das Gebäude des berüchtigten Waisenhauses 1968 in den Besitz seines Ordens übergegangen war, hatte er sich mit so vielen Lydias auseinandersetzen müssen. Leute, die ihrem Leben auf den Grund gehen und verstehen wollten, warum ihre Mütter sie zur Welt gebracht hatten, nur um sie zu verlassen.
    »Bitte entschuldigen Sie, wie es hier aussieht«, sagte er, »aber als das Waisenhaus geschlossen wurde, haben wir hier alles mehr oder weniger so gelassen, wie es war. Natürlich auch die Aktenschränke mit all den Dokumenten. Dieser Raum ist eine Art Vergangenheitsspeicher, wenn Sie so wollen. Wir halten es für das Beste, alle Spuren zu bewahren,damit wir Menschen wie Ihnen helfen können, die ihre Suche nach Antworten hierherführt.«
    Lydia nickte langsam. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Auf jeden Fall wollte sie nicht weinen.
    »Mein herzliches Beileid zum Tode Ihrer Frau Mutter. Es ist schwer genug, jemanden zu verlieren, der einem so nahegestanden hat, ohne etwas entdecken zu müssen, was so lange verborgen gehalten wurde.«
    »Vielen Dank, Vater.«
    Ein Strauß blauer Lobelien war im Kamin verwelkt. Wahrscheinlich verströmten sie den faulig beißenden
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