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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman
Autoren: Christina McKenna
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Geruch im Raum. Neben dem Kamin stand eine klauenfüßige Anrichte aus schwerem Sargholz mit einem blinden Spiegel und einer wurmzerfressenen Ablage. Lydia kam es vor, als sei alles im Zimmer tot. Es schnürte ihr die Luft ab und verschlug ihr die Sprache; die Bedeutung dessen, was vor ihr lag, schüchterte sie vollkommen ein.
    Sie sah zum Fenster hinaus, um etwas Abstand zu diesem Alptraum zu bekommen, doch auf einem Hügel in einiger Entfernung erblickte sie nur mit Flechten überwachsene Grabsteine. Viele waren umgefallen, weil sie dort so lange in Habachtstellung ausgeharrt hatten. Nein, von dort konnte sie sich keine Erleichterung erhoffen. Sie drehte sich wieder zu dem jungen Priester um.
    »Vielleicht hilft es Ihnen, wenn ich mir den Brief Ihrer Mutter einmal ansehe«, sagte er, kam um den Schreibtisch herum und setze sich neben sie aufs Sofa.
    »Ja«, brachte sie hervor. »Vielen Dank.«
    Sie beobachtete, wie seine Lippen die Worte ihrer verstorbenen Mutter formten, und fragte sich, warum so ein gut aussehender junger Mann sich zu einem abgeschiedenen Ort wie diesem verurteilt hatte.
    »Hm, der fünfte Dezember neunzehnhundertvierunddreißig. Lassen Sie mich mal nachsehen.«
    Die Aktenschränke standen an der hinteren Wand. Sie zählte elf. Vater Finian öffnete die Schublade eines mittleren. Er zog eine Akte heraus und ging damit zum Schreibtisch.
    Nachdem er sie einige Minuten durchgeblättert hatte, sagte er: »Es tut mir sehr leid, aber ich kann Ihnen den Namen Ihrer Mutter nicht nennen.«
    Der Priester hatte weise beschlossen, Lydia die Einzelheiten zu ersparen. Diese Entscheidung hatte er schon einige Male getroffen. Er entnahm den Akten, dass sie am vierten November 1934 in Zeitungspapier eingewickelt in einer Einkaufstüte auf den Stufen des Waisenhauses der heiligen Agnes bei den Barmherzigen Schwestern abgelegt worden war. Und einen Monat später von Perseus Cuthbert Devine und seiner Frau Elizabeth adoptiert worden war.
    »Das macht nichts, Vater«, sagte Lydia und überraschte ihn mit ihrem Gleichmut. »Ich habe eigentlich nichts anderes erwartet, aber ich musste ganz sicher gehen.«
    Vater Finian sah traurig auf die Akte herab.
    »Gibt es sonst noch irgendetwas?«, fragte Lydia. Es gelang ihr, ruhig zu sprechen. Plötzlich wollte sie alles nur noch hinter sich bringen und nie mehr wiederkommen. Also hieß es, jetzt oder nie.
    »Etwas Handschriftliches von ihr. Oder irgendetwas anderes?«
    »Hier ist noch ein Umschlag.« Er war nicht zugeklebt. Er fischte einen Zeitungsartikel daraus hervor.
    »Nur noch dies.« Er reichte ihn ihr, aber vermied es, ihren verstörten Blick aufzufangen. Lydias Hände zitterten, als sie das kleine gelbe Überbleibsel überflog. Es stammte aus dem
Vindicator
vom 3. November 1934.
    »Was ... was ... hat das zu bedeuten?«
    Sie zwang sich zu dieser Frage, auch wenn ihre Stimme nicht ihr zu gehören schien. Vater Finians düsterer Gesichtsausdruck sagte ihr alles. Sie sah ihn fragend an. Wartete. Aber er gab keine Antwort. Dann musste sie doch weinen und er verschwamm vor ihren Augen. Stille hatte sich auf sie gesenkt, eine Stille, in der er nichts erklären und sie sich dem kaum Verständlichen stellen musste.
    »Ich war ... war ich ... ich war ...« Sie hielt die Zeitung zitternd hoch. »Ich war ... hierin eingewickelt?«
    Und als sie diese Worte aussprach, löste sich etwas in ihrem Herzen und fiel hinab, ein Teil von ihr, von dem sie immer gewusst hatte, dass erda war, aber mit dem sie sich nie hatte beschäftigen wollen – das verlassene Kind in ihrem Inneren. Das Kind, das seinen Schatten auf die Frau warf, die sie sein wollte. Auf einmal bekam die Abkoppelung und Isolation von ihren »Eltern«, die sie immer gespürt hatte, eine Bedeutung. Sie war in die Welt gekommen, nur um in Zeitungspapier gewickelt wie Abfall weggeworfen zu werden. Wie konnte ihre richtige Mutter, die sie geboren hatte, so etwas tun? Aus Lydias Verzweiflung wurde Ärger und sie wischte die Tränen fort.
    »Geben Sie ihr keine Schuld«, sagte Vater Finian tröstend. »Sie hat das getan, von dem sie damals glaubte, es wäre das Beste für Sie. Wir kennen die Umstände nicht, in denen sie gelebt hat.«
    »Ja ... ich weiß.«
    Doch schon als sie diese Worte aussprach, wusste Lydia, dass sie eigentlich gar nichts wusste.
    Sie sah den jungen Mann direkt an, sie wünschte sich so sehr, dass er ihre Bedürfnisse verstand, aber sein trauriges Gesicht bestätigte ihr, was sie geahnt hatte, seit sie den
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