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Lady Chesterfields Versuchung

Lady Chesterfields Versuchung

Titel: Lady Chesterfields Versuchung
Autoren: Michelle Willingham
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1. KAPITEL
    London, 1855
    S ie spürte, dass er sie beobachtete. Wie ein Beschützer, dessen wachsamer Blick jeden Gentleman davor warnte, sich ihr zu nähern. Lady Hannah lächelte der unentwegt auf sie einredenden Ballbesucherin neben sich zu, ohne ein einziges Wort zu verstehen, das die Frau von sich gab. Zu sehr hielt die faszinierende Ausstrahlung Lieutenant Thorpes sie gefangen.
    Es war bereits ein paar Wochen her, dass sie ihn das erste Mal getroffen hatte, doch es kam ihr vor, als wäre es erst gestern gewesen. Er hatte sie angesehen wie eine Süßigkeit, die er wollte, aber nicht haben konnte.
    Als sie einander vorgestellt wurden, hatte der Lieutenant ihre Hand zum Kuss an seine Lippen gehoben und ihren Handrücken dann tatsächlich mit dem Mund berührt. Hannah war heftig errötet, und gleichzeitig hatte sein ungebührliches Verhalten das Verlangen in ihr geweckt, ihm näherzukommen. Vielleicht weil er ihr das Gefühl gab, dass er sie von Kopf bis Fuß mit solch zärtlichen Küssen verwöhnen wollte. Allein der Gedanke daran ließ Hannah wohlig erschauern. Der Lieutenant war ein ungewöhnlicher Mann, und er machte keinen Hehl aus seinem Interesse an ihr.
    Die Mitternachtsstunde nahte und mit ihr die Zeit für heimliche Liaisons. Nicht wenige Damen waren in männlicher Begleitung in den Garten hinausgegangen, um kurz darauf mit Zweigen im Haar und von Küssen geröteten Lippen wieder zurückzukehren.
    Wie es sich wohl anfühlen mochte, den Mund eines Mannes auf den Lippen zu spüren und sich verführerischen Liebkosungen hinzugeben? Lieutenant Thorpe strahlte eine Ungezähmtheit aus, die sie ungemein anzog. Leider gehörte er keineswegs zu den gesellschaftlichen Kreisen, in denen ihre Familie verkehrte.
    Sie spähte verstohlen in seine Richtung. Thorpe lehnte an der Wand und hielt ein Glas Limonade in der Hand. Sein schwarzer Frackrock saß etwas zu eng um die breite Schulterpartie – ein Hinweis darauf, dass er sich vermutlich keinen der erstklassigen Schneider in der Savile Row leisten konnte. Die helle Weste betonte seinen muskulösen Oberkörper, und die weiße Satinkrawatte wirkte etwas achtlos gebunden. Thorpes dunkles Haar war ein wenig länger als üblich. Sein Gesicht war entgegen der Mode glatt rasiert.
    Als er merkte, dass sie zu ihm hinsah, lächelte er ihr zu, als wolle er sie ermutigen, sich zu ihm zu gesellen und mit ihm zu sprechen. Das kam natürlich unter gar keinen Umständen infrage.
    Wieso war er überhaupt auf diesem Ball? Sicherlich nicht, um unter den geladenen jungen Damen Ausschau nach einer künftigen Gattin zu halten. Er war zwar Offizier, besaß jedoch keinen Titel. Es musste die ungewöhnliche Freundschaft zu ihrem Bruder Stephen sein, die ihm den Zutritt zum Haus ihres Vaters, des Marquess of Rothburne, ermöglicht hatte.
    „Hannah!“ Ihre Mutter Christine war unbemerkt an sie herangetreten und wedelte ihr mit einer Hand vor den Augen herum. „Träumst du schon wieder, Mädchen? Steh gerade und lächle“, flüsterte Ihre Ladyschaft aufgeregt. „Da kommt Belgrave, um dich zum Tanz aufzufordern. Ich hoffe so sehr, dass ihr ein Paar werdet. Der Baron wäre der perfekte Gatte für dich. Er sieht gut aus und verfügt über ausgezeichnete Manieren.“
    Hannah sah das anders. „Mutter, ich habe nicht den Wunsch, den Baron zu heiraten.“
    „Warum nicht? Was stimmt nicht mit Lord Belgrave?“
    Hannah hob die Schultern. „Ich weiß nicht. Irgendetwas stimmt eben nicht mit ihm.“
    „Du lieber Himmel.“ Ihre Mutter verdrehte die Augen. „Hannah, was du dir wieder einbildest! Es ist rein gar nichts verkehrt mit Seiner Lordschaft, und ich bin sicher, dass er einen exzellenten Ehemann abgibt.“
    Obwohl Hannah vom Gegenteil überzeugt war, verzichtete sie darauf, ihrer Mutter zu widersprechen. Sie wusste seit langem, dass ihre Eltern ein sehr genaues Bild vom zukünftigen Ehemann ihrer Tochter hatten. Selbstverständlich musste der Auserwählte adlig und vermögend sein und darüber hinaus einen eindrucksvollen Titel vorweisen können. Ihre Eltern stellten sich wohl einen Ausbund an Tugend vor, der niemals etwas Unrechtes tat und Damen mit formvollendetem Respekt behandelte.
    Und vermutlich in seiner Freizeit kleinen Kätzchen das Leben rettete, dachte Hannah ironisch. Solche Männer gab es nicht, das wusste sie aus erster Hand, immerhin war sie mit zwei Brüdern aufgewachsen.
    Trotzdem hatte sie den sehnlichen Wunsch zu heiraten, auch wenn sie sich allmählich fragte, ob sie
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