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Der Tschernobyl Virus

Der Tschernobyl Virus

Titel: Der Tschernobyl Virus
Autoren: Thorsten Huehne
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der alte Mann schüttelte den Kopf, »diese Leute haben uns oft rätseln lassen, was wir tun sollten.«
    Olexij schwieg eine Weile und sah seine Frau an, sie lächelte ihn, von Krankheit gequält und doch sanftmütig, an. Er nahm ihre Hand. Nach einiger Zeit sagte er: »Was damals passierte, das hat uns zusammengeschweißt.«
    »Das Kraftwerk war ja eigentlich noch im Bau«, erzählte Olexij weiter, »acht Blöcke sollten entstehen, und als der fünfte und sechste im Bau waren, geschah die Explosion. Danach haben die alle arbeitsfähigen Männer zum Einsatz hierher geschickt, zwei Wochen arbeiten, zwei Wochen zur Erholung. Das schlimmste war, dass es keine Schutzkleidung gab, jedenfalls nicht für alle. Nur für die Maßnahmen direkt am Block wurden keine Arbeiter eingesetzt, sondern Soldaten. Sie wurden zu Helden«, er lachte bitter auf, »das haben viele mit ihrem Leben bezahlt. «
    Valentyna hatte Tränen in den Augen Sie drückte ihrem Mann jetzt ganz fest die Hand, »Olexij hatte erstmal Glück. Während die anderen Arbeiter auf die Dörfer im Umkreis von einhundert Kilometer zur Erholung verteilt wurden, durfte er sofort ans Schwarze Meer zu mir und unserer Tochter reisen. Zwei Wochen durfte er bleiben, dann musste er zurück und sich im Bezirksbüro der KpdSU melden.«
     
    Lehman war wieder einmal abgelenkt. Die Tochter, Anastasia, ein wunderschönes Mädchen, hoch intelligent. Als er in die Wohnstube eingetreten war, hatten ihre Eltern sie einander vorgestellt. Voller Stolz hatten sie erzählt, dass ihre Tochter, obwohl erst neunzehn, bereits im dritten Semester Medizin studiere. Sie war so gut gewesen, dass sie zwei Klassen in der Schule übersprungen hatte. Jetzt war sie auch in diesem dritten Semester mit Abstand die Beste und würde auch dieses Studium in Rekordzeit hinter sich bringen. Lehman hatte sie seit der Vorstellung nicht mehr gesehen. Olexijs Stimme holte ihn wieder in das Jetzt zurück. »>Du arbeitest in Tschernobyl<, zischte der Sekretär im Büro mich an«, erzählte er in einem zornigen Tonfall, »er sagte >du schläfst hier im Wohnheim in Poleskoje. Du fährst jeden Morgen zum Arbeitsort und abends zurück< wie Vieh wurden wir hin und her gefahren« Valentyna stand auf, nahm Lehmans leere Tasse und nahm sie mit in die Küche. Olexij erzählte gedankenversunken weiter, »Ich wurde zum Betonmischen eingeteilt. Ständig wurde dieser graue Betonrohstoff angekarrt. Es war immer der gleiche Ablauf, Beton aufladen, umfüllen, anrühren und transportfähig machen. Wir haben irgendwann die Betonhülle >Sarkophag< genannt. Wir alle hatten Angst, doch wir zeigten es nicht, Aber die Radioaktivität schlich langsam in unsere Glieder. Wegen eines wunden Gefühls im Mund konnte ich an manchen Tagen kaum einen Bissen schlucken, obwohl das Essen ausgezeichnet schmeckte.«
    »Schließlich wurde auch ich krank und kam ins Krankenhaus von Poleskoje, das war eigens für uns, die Arbeiter aus Tschernobyl, reserviert. Ich musste ständig husten, wurde schwach. Ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten. Das Krankenhaus wurde gut bewacht, niemand kam ohne Genehmigung rein oder raus, selbst das Personal wurde jeden Morgen streng kontrolliert. Ständig wurde die radioaktive Strahlung getestet.«
    Lehman notierte eifrig alles mit, und ihn bedrückten die Erzählungen des alten Mannes. Er wusste nicht wie alt die beiden waren. Er schätzte sie auf weit über siebzig. Olexij beendete seine kleine Pause und erzählte weiter, »Mein Zimmergenosse hatte es schlimmer erwischt als mich. Er war vom Betonstaub krank geworden, der durch die ständig am Krankenhaus vorbeifahrenden Laster aufgewirbelt worden war, aber bei ihm kam noch die Strahlenkrankheit hinzu. Davon sollte er sich in Poleskoje erholen. Er hatte sehr viel Gewicht verloren, war nur noch Haut und Kochen. Seine Wangen waren eingefallen. Er atmete unregelmäßig, seine Lungen konnten nicht mehr viel Luft aufnehmen. irgendwann röchelte er nur noch.« Eine Träne glitt über die faltige Wange des alten Mannes, »Ich hielt seine Hand, als er starb, dabei wusste ich noch nicht einmal seinen Namen. Noch heute kann ich seine letzten Worte hören, er sagte >Mach’s gut Genosse<.«
    »Die meisten Arbeiter, die zur Zeit der Explosion ihren Dienst im Werk leisteten, starben später an der Strahlenkrankheit«, fügte Valentyna hinzu. »Trotz dieser Aussichten kamen immer neue Arbeiter Eine neue Trabantenstadt wurde gebaut; Slawutitsch, fünf Kilometer vom Werk
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