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Der Tschernobyl Virus

Der Tschernobyl Virus

Titel: Der Tschernobyl Virus
Autoren: Thorsten Huehne
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sprach die Frau von der Bürgervertretung. Sie übergab ihm, wie jedem Bewohner des Hauses ein Päckchen mit jodhaltigen Tabletten. »Nehmen Sie täglich eine davon, zum Schutz vor der Strahlung«, forderte sie Olexij und die Nachbarn auf. Für Fragen war keine Zeit. Die Frau wandte sich schon zur nächsten Haustür um.
    Erst um halb neun sendete das Radio eine Durchsage: »Bürgerinnen und Bürger von Prypjat! Am 26. April 1986 hat sich im Kernkraftwerk „Lenin“ in der Nähe der Stadt Tschernobyl ein Unfall ereignet. Es besteht keine Gefahr für Leben und Gesundheit... «.
    In dieser Ansprache verkündete die Regierung der Sowjetunion dennoch, die Einwohner für drei Tage zu evakuieren. Einen Augenblick dachte Olexij daran, ins Krankenhaus zu seiner Frau und dem Neugeborenen zu fahren, doch dahin konnte er Irina nicht mitnehmen. Er blieb, verhängte die Fenster mit befeuchteten Tüchern, damit der feine Staub nicht in die Wohnung vordrang. Er packte Kleidung, Essen, Geld und persönliche Dinge zusammen.
    Am 27. April, um 15 Uhr, versammelten sich alle auf der Straße. Mit 30 Rubel, mehr Geld war zum Monatsende nicht im Haus, begann auch für Olexij und Töchterchen Irina die Evakuierung. Die Straßen füllten sich mit Männern, die Taschen in den Händen hielten, Frauen trugen ihre Kinder auf den Armen oder führten sie an ihren Händen. Busse kamen, sie stiegen ein und fuhren ab. Die alten vertrauten Straßen entlang, verließen sie die Stadt. Noch glaubten die Menschen, am folgenden Sonntag werde alles vorbei sein.
     

21 Jahre später
     
    Igor Subchenko freute sich, dass heute sein letzter Monat anbrach. Nur noch einen Monat Nachtschicht in Prypjat. Zusammen mit seinem Freund und Kamerad Borys war er auf Streife. Er gehörte zu den Kontrolltruppen der ukrainischen Armee, die in Prypjat kontrollierte, dass sich hier keine illegalen Personen aufhielten. Es war der seltsamste Auftrag, seitdem er in der Armee war. Er hatte sich für diesen Auftrag freiwillig gemeldet, denn er brachte eine bessere Bezahlung mit sich. Seine Freundin hatte getobt und wild geschrien; sie hatte gedroht, ihn zu verlassen, wenn er annehmen würde. Sie hatte gemeint, es sei zu gefährlich. Was, wenn er sterben würde, was, wenn er plötzlich entstellt wäre. Was, wenn er plötzlich mutiert wäre. Igor grinste, wenn er an diese Nacht dachte. Er hatte damals plötzlich seltsame Laute von sich gegeben, hatte begonnen zu hinken und watschelte wie eine Mischung aus Frankenstein und einer Ente durch das Zimmer, so dass auch Maryna lachen musste. Er beruhigte sie und meinte, dass er ja nur kurz dort sein würde und die Strahlung in der kurzen Zeit nicht schädlich sei. Schließlich war sie dann doch einverstanden gewesen, und er trat seinen Dienst hier an der Sperrzone an. Hätte er gewusst, was ihn erwartete, hätte er diesen Auftrag nie angenommen.
    Er hatte immer Angst, wenn er durch Prypjat, dieser seltsamen Geisterstadt ging. Die Gegend um die Stadt war abgeriegelt, aber es gab doch einige Menschen, die immer wieder Wege um die Kontrollen fanden und hierher kamen. So hatte sich eine kleine Gemeinde von Aussiedlern gebildet. Inzwischen ließ sie das Militär in Ruhe. Man ließ sie gewähren. Einmal in der Woche wurden sie mit Lebensmitteln versorgt. Igor hatte noch nie einen dieser Menschen gesehen. Er konnte sich von den Menschen, die hier hausten, kein Bild machen. Er konnte nicht verstehen, wie man freiwillig hier leben konnte. So langsam glaubte er selbst daran, dass es vielleicht Mutanten oder ähnliches sein könnten. Er selbst spürte ja bereits nach dieser kurzen Zeit die Wirkung der Strahlung auf ihn. Das Atmen fiel ihm immer schwerer und manchmal hustete er Blut. Er war ständig müde und immer öfter unkonzentriert, und auf die Toilette ging er nur noch, wenn er es gar nicht mehr halten konnte, es brannte beim Wasserlassen. Borys deutete ihm an, mit ihm zu den Autoscootern zu gehen. Dieser Jahrmarkt war der schlimmste Ort für Igor. Der Rummelplatz war damals für die Feierlichkeiten zum 1. Mai aufgebaut worden. Als die Stadt evakuiert wurde, blieb alles so stehen, wie es war. Noch heute schien es so, als ob der Rummel gerade geschlossen hätte und morgen wieder aufmachen würde. Lediglich die Pflanzen, die ungehemmt wucherten, und der Rost, der sich durch das Metall fraß, zerstörten dieses Bild. Es war ein Endzeitszenario, wie er es aus Horrorfilmen kannte. Borys bog rechts ab in Richtung des Riesenrads. Igor ging nach links
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