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Der Traumkicker - Roman

Der Traumkicker - Roman

Titel: Der Traumkicker - Roman
Autoren: Insel Verlag
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allein einen trinken gehen!«, ereiferte er sich beim Eintreten mit seiner irren, speichelweichen Radiosprecherstimme.
    Als unsere Gäste zum Nachtisch aus großen Gläsern ihren Pfirsichsaft mit Graupen löffelten, hatten wir (ausschließlich an ihn gewandt, denn die Frau schien allein am Tisch und auf der Welt zu sein) unser fußballerisches Drama zu Ende erzählt. Und Don Celestino Rojas schloss unsere Schilderung auf die artigste und überzeugendste Weise ab mit den Worten, uns sei letztlich daran gelegen, »und wir hoffen, wir treten Ihnen damit nicht zu nah, lieber Expedito«, ihn mit allem Respekt darum zu bitten, doch vielleicht die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, ob er nicht bis zum Sonntag in unserer Siedlung bleiben und für unsere Mannschaft spielen könne.
    »Wenn ein Genie wie Sie unser Trikot trägt«, hob Don Celestino Rojas noch einmal hervor, »dann ist unsere Pechsträhne sicher zu Ende, und wir können es unseren Erzrivalen endlich einmal zeigen.«
    Weil wir bis zum abschließenden Tässchen Kräutertee keinerlei erfreuliche Regung an dem Mann zu erkennen vermochten, führten wir als letztes Mittel das unermessliche soziale und menschliche Drama ins Feld, das uns bevorstand.
    Wir hatten keine Wahl, wir mussten an seine Gefühle appellieren.
    Und dafür bestellten wir nicht nur ein paar Flaschenvom guten roten »Sonrisa de León«, sondern überließen das Wort auch denen von uns, die es am besten zu führen verstanden, die sich kein X für ein U vormachen ließen und selbst einen Stein zu Tränen gerührt hätten; also denselben, die sich immer mit der Chefetage angelegt und sich auf den hitzigen Gewerkschaftsversammlungen zu Wort gemeldet hatten (vor dem Militärputsch, versteht sich, danach wurde auf den Versammlungen ja nur noch verkündet, und keiner wagte es mehr, um das Wort zu bitten, und sei es, um nach der Uhrzeit zu fragen).
    Mit dem schauspielerischen Talent der herausragenden Politiker vergangener Zeiten (Radikale, Mannskerle, Freidenker) dirigierten unsere Wortführer Gespräch und Gefühl und zielten direkt ins Herz, als sie jetzt mit brüchiger Stimme sagten, der Genosse Expedito solle sich doch einmal umschauen, und die ehrenwerte Dame doch bitte ebenfalls, denn diese Tische, die sie ringsum sehen könnten, diese adretten und sauberen Tische mit den Blumen in den kleinen Flaschenvasen und den bedruckten Wachstuchdecken und auch diese herzergreifende mexikanische Musik vom Plattenteller, die hier im Lokal für Atmosphäre sorgte, wo sie so angenehm aßen und plauderten, denn all das werde womöglich in wenigen Tagen nicht mehr sein, wäre verschwunden im Nichts. Auch werde dieses »Nest, wie Sie, Genosse, unsere geliebte Siedlung genannt haben«, womöglich schneller, als wir alle uns das vorstellen könnten, von der Landkarte getilgt, werde getilgt mit seinen Plätzen, seiner Vergangenheit, seinem Uhrturm, dem Kirchlein und all den Häusern, denen, wiewohl aus Brettern undlöchrigem Wellblech errichtet, von ihren Bewohnern, diesen zähen Männern und Frauen, die Würde und Wärme der wahren Heimstatt verliehen worden war. Weil die Minengesellschaft nämlich, ungeachtet aller von den neuen Machthabern unternommenen Bemühungen, entschieden habe (aus Gründen der Kostenersparnis, wie ihre schwarzberockten, geiergesichtigen Anwälte behaupteten), dass der Ort aufgegeben und seine Arbeiter in eine andere Salpetersiedlung geschickt würden. Und das Tragischste daran, mein lieber Freund, das Tragischste sei, dass sie die Siedlung nicht einmal als einen weiteren der vielen in der Wüste verstreuten Geisterorte stehen lassen wollten, sondern sie abbauen, sie ausschlachten und die Bretter und das Wellblech der Häuser zum Materialpreis verhökern würden. Was für die Einwohner von Coya Sur besonders schmerzlich und schwer zu verkraften sei, weil hier doch jeder mit jedem gut Freund sei; die Siedlung sei klein, ihre sechs Straßen kurz und überschaubar, da würden wir einander ja fast in- und auswendig kennen. Jeder wisse um die Träume und Hoffnungen seines Nachbarn, um seine Erfolge und Niederlagen, seine Stärken und Schwächen. Und nicht nur das, Genosse Expedito, über die Jahre sei ja aus dem Miteinander ein Familiengeflecht erwachsen und jetzt seien quasi alle miteinander verwandt; die ganze Siedlung eine einzige große Familie. Wer nicht Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Bruder, Schwester, Neffe oder Cousin war, der war wenigstens als Schwiegersohn oder -tochter, Schwager oder
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