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Der Traum

Der Traum

Titel: Der Traum
Autoren: Emile Zola
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Beaumontl˜Eglise nur etwa dreißig Meilen von Paris entfernt liegt, wohin man in zwei Stunden gelangen kann, scheint es noch in seine alten Festungswälle eingemauert zu sein, von denen jedoch nur noch drei Tore übrig sind. Eine seßhafte, besondere Bevölkerung lebt hier das Leben, das die Vorfahren seit fünfhundert Jahren von Generation zu Generation geführt haben.
    Die Kathedrale ist die Erklärung für alles, hat alles hervorgebracht und erhält alles. Sie ist die Mutter, die Königin, riesig inmitten des Häufleins niedriger Häuser, die gleich Kücken unter ihren steinernen Flügeln fröstelnd Schutz gesucht haben. Man lebt hier nur für die Kathedrale und durch die Kathedrale; die Handwerksbetriebe arbeiten nur, die Läden verkaufen nur, um sie zu ernähren, sie zu kleiden, sie zu unterhalten, sie und ihren Klerus; und wenn man einigen Bürgersleuten begegnet, so sind es die letzten Getreuen von längst entschwundenen Massen. Die Kathedrale schlägt wie ein Herz im Mittelpunkt, jede Straße ist eine ihrer Adern, die Stadt hat keinen anderen Atem als den ihren. Daher dieser Geist eines anderen Zeitalters, dieses fromme Erstarren in der Vergangenheit, diese klösterlich abgeschlossene Altstadt, die sie umgibt und nach einem alten Wohlgeruch von Frieden und Glauben duftet.
    Und von der ganzen geheimnisumwitterten Altstadt stand das Haus der Huberts, in dem Angélique von nun an leben sollte, der Kathedrale am nächsten, war mit ihr verwachsen. Die Genehmigung, dort zwischen zwei Strebepfeilern zu bauen, mußte einst von irgendeinem Pfarrer erteilt worden sein, dem daran lag, den Ahnen dieses Geschlechts von Stickern als Meßgewandmachermeister und Lieferanten für die Sakristei an sich zu binden. Auf der Südseite sperrte die riesenhafte Masse der Kirche den schmalen Garten ab: unten der Umgang der Seitenkapellen, deren Fenster auf die Beete hinausgingen, dann der schlanke Leib des von den Strebebögen gestützten Schiffes, dann das weitläufige, mit Bleiplatten gedeckte Dach. Niemals drang die Sonne in die Tiefe dieses Gartens, nur Efeu und Buchsbaum wuchsen hier kräftig; und dennoch war der ewige Schatten, der von der riesigen Chorhaube der Apsis fiel, hier sehr lieblich, ein andächtiger, grabesstiller und reiner Schatten, der gut roch. In das grünliche, von ruhiger Kühle erfüllte Zwielicht ließen die beiden Türme nur das Geläut ihrer Glocken herabhallen. Von ihrem Klang zitterte das ganze Haus, das in diese alten Steine eingegossen, mit ihnen verschmolzen war und von ihrem Blute lebte, noch lange erschauernd nach. Es erbebte bei den geringsten kirchlichen Feiern; die Hochämter, das Grollen der Orgel, die Stimme der Vorsänger, sogar das beklommene Seufzen der Gläubigen summten in jedem seiner Räume, wiegten es mit geheiligtem Atem, der aus dem Unsichtbaren kam; und durch die erwärmte Mauer schienen manchmal sogar Weihrauchdämpfe zu dringen.
    Fünf Jahre hindurch wuchs Angélique dort wie in einem Kloster, fern der Welt, heran. Sie kam nur sonntags aus dem Haus, um die Siebenuhrmesse zu hören, denn Hubertine hatte es durchgesetzt, sie nicht zur Schule schicken zu müssen, weil sie dort schlechten Umgang haben könnte. Diese alte und so beengte Behausung mit dem totenstillen Garten war ihre ganze Welt. Sie bewohnte unter dem Dach eine mit Kalk geweißte Kammer; morgens ging sie zum Frühstück in die Küche hinunter; zum Arbeiten stieg sie wieder in die Werkstatt im ersten Stock hinauf; und das waren nebst der steinernen Wendeltreppe in ihrem Türmchen die einzigen Winkel, in denen sie lebte, just die ehrwürdigen, von Geschlecht zu Geschlecht erhaltenen Winkel, denn niemals betrat sie das Schlafzimmer der Huberts und ging kaum einmal durch die gute Stube im Erdgeschoß, die beiden nach dem Geschmack der Zeit renovierten Räume. In der guten Stube hatte man die Deckenbalken weiß getüncht; ein Kranzgesims aus Palmenblättern mit einer Rosette in der Mitte schmückte die Decke; die Tapete mit großen gelben Blumen stammte aus der Zeit des ersten Kaiserreiches ebenso wie der Kamin aus weißem Marmor und die Mahagonimöbel, ein Tischchen, ein Ruhebett, vier mit Utrechter Samt bezogene Sessel. Wenn sie bei den seltenen Malen, die sie hierherkam, um die Auslage, einige in das Fenster gehängte Stickereien, auszuwechseln, einen Blick nach draußen warf, hatte sie immer denselben unveränderlichen Ausblick auf die auf das SanktAgnesTor zulaufende Straße: eine Kirchgängerin stieß den Türflügel
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