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Der Traum

Der Traum

Titel: Der Traum
Autoren: Emile Zola
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Buchstaben, große oder mittlere Kupferstiche, wie sie im Text auf die einzelnen Seiten gehörten: Maria Verkündigung, ein riesiger Engel, der eine ganz zerbrechliche Maria mit Strahlen überflutet; der Mord an den unschuldigen Kindlein, der grausame Herodes16 inmitten eines Haufens kleiner Leichname; die Krippe, Jesus zwischen der Muttergottes und dem heiligen Joseph, der eine Kerze hält; der heilige Johannes der Almosner17, der den Armen gibt; der heilige Matthias18, der ein Götzenbild zerschlägt; der heilige Nikolaus19 als Bischof, der zu seiner Rechten Kinder in einem Kübel hat; und alle die heiligen Frauen, Agnes, der man den Hals mit einem Schwert durchbohrt, Agatha, der man die Brustwarzen mit Zangen ausgerissen, Genoveva, der ihre Lämmlein folgen, Juliana20, die gegeißelt, Anastasia21, die verbrannt wurde, Maria Aegyptiaca22, die in der Wüste Buße tut, Maria Magdalena23, die das Gefäß mit wohlriechender Salbe trägt. Andere und immer wieder andere zogen vorüber, Schrecken und Gottesfurcht wurden mit jeder dieser Heiligen größer, es war wie eine jener schrecklichen und zugleich süßen Geschichten, die einem das Herz zusammenpressen und die Augen mit Tränen feuchten.
    Doch mit der Zeit wurde Angélique neugierig und wollte ganz genau erfahren, was diese Kupferstiche darstellten. Die beiden enggedruckten Textspalten, deren Lettern auf dem vergilbten Papier tiefschwarz geblieben waren, erschreckten sie durch den barbarischen Anblick der gotischen Schriftzeichen. Sie gewöhnte sich jedoch daran, entzifferte die Schriftzeichen, begriff die Abkürzungen und die Zusammenziehungen, wußte die Wendungen und die veralteten Worte zu erraten; und schließlich las sie fließend, war entzückt, als dringe sie in ein Geheimnis ein, und jubelte bei jeder neuen Schwierigkeit, die sie überwand. In diesem beschwerlichen Dunkel offenbarte sich eine ganze strahlende Welt. Sie trat ein in himmlischen Glanz. Ihre paar klassischen Bücher, die so nüchtern und so kalt waren, existierten überhaupt nicht mehr. Allein die »Legenda aurea« begeisterte sie, ließ sie nicht mehr los, hielt sie fest, vornübergebeugt, die Stirn in die Hände gestützt, ganz und gar gefangen, so daß sie nicht mehr aus dem täglichen Leben heraus lebte, sondern ohne Zeitbewußtsein das große Erblühen des Traumes aus der Tiefe des Unbekannten heraufsteigen sah.
    Gott ist sanftmütig, und nächst ihm sind es die heiligen Männer und die heiligen Frauen. Sie werden als Auserwählte geboren, Stimmen kündigen sie an, ihre Mütter haben strahlende Träume. Alle sind schön, stark, sieghaft. Heller Schein umgibt sie, ihr Antlitz leuchtet. Dominicus24 hat einen Stern an der Stirn. Sie lesen im Geiste der Menschen, wiederholen mit lauter Stimme, was man denkt. Sie haben die Gabe der Weissagung, und ihre Prophezeiungen treffen stets ein. Ihre Zahl ist unendlich, es gibt Bischöfe und Mönche, Jungfrauen und Huren, Bettler und vornehme Herren von königlichem Geschlecht, nackte Einsiedler, die Wurzeln essen, Greise, die mit Hindinnen in Höhlen leben. Ihrer aller Geschichte ist die gleiche, sie wachsen für Christus heran, glauben an ihn, weigern sich, den falschen Göttern zu opfern, werden gefoltert und sterben voller Herrlichkeit. Die Verfolgungen werden den Herrschern lästig. Andreas25, der gekreuzigt wurde, predigt zwei Tage lang zwanzigtausend Menschen. Bekehrungen in Massen finden statt, vierzigtausend Menschen werden auf einmal getauft. Wenn die Menschenmengen sich angesichts der Wunder nicht bekehren, fliehen sie entsetzt. Man beschuldigt die Heiligen der Zauberei, man gibt ihnen Rätsel auf, die sie lösen, man läßt sie Streitgespräche mit den Gelehrten führen, die ihnen nichts zu erwidern vermögen. Sowie man sie in die Tempel führt, damit sie Opfer darbringen, werden die Götzenbilder von einem Windhauch umgestürzt und zerbrechen. Eine Jungfrau knüpft ihren Gürtel um den Hals der Venus, die daraufhin in Staub zerfällt. Die Erde erzittert, der Tempel der Diana26 stürzt ein, vom Blitz getroffen; und die Völker begehren auf, Bürgerkriege brechen aus. Jetzt verlangen oft die Henker nach der Taufe, die Könige knien zu Füßen der in Lumpen gehüllten Heiligen nieder, die sich der Armut vermählt haben. Savina27 flieht aus dem elterlichen Hause. Paula28 verläßt ihre fünf Kinder und versagt sich das Baden. Kasteiungen, Fasten läutern sie. Weder Weizenbrot noch Öl. Germanus29 streut Asche über seine Nahrung. Bernhard30 kann
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