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Der Traum

Der Traum

Titel: Der Traum
Autoren: Emile Zola
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Und von da an hielt Hubertine sie streng, duldete nicht mehr, daß sie sich gehenließ, überhäufte sie mit Arbeit, schuf Schweigen und Kälte um sie her, sowie sie fühlte, daß Angélique erregt wurde, irre Augen und glühende Wangen bekam.
    Im übrigen hatte Hubertine eine Hilfe in dem Büchlein der Fürsorgebehörde entdeckt. Alle Vierteljahre, wenn der Steuereinnehmer seine Unterschrift hineinschrieb, war Angélique deswegen bis zum Abend düster gestimmt. Stechender Schmerz krampfte ihr Herz zusammen, wenn sie eine Goldspule aus der Truhe nahm und sie dabei das Buch zufällig erblickte. Und an einem Tage, an dem sie besonders wütend und ungezogen, ihr mit nichts beizukommen war und sie in der Schublade alles durcheinanderwühlte, war sie angesichts des kleinen Buches jäh wie vernichtet zusammengesunken. Schluchzen erstickte sie, sie hatte sich den Huberts zu Füßen geworfen, sich gedemütigt und gestammelt, sie hätten unrecht daran getan, sie von der Straße aufzulesen, und sie verdiene es nicht, ihr Brot zu essen. Seit diesem Tag hielt sie der Gedanke an das Büchlein oft von ihren Zornesausbrüchen zurück.
    So erreichte Angélique ihr zwölftes Lebensjahr, das Alter für die Erstkommunion. Die so ruhige Umgebung, dieses im Schatten der Kathedrale schlummernde, von Weihrauch durchduftete, von Lobgesängen erschauernde kleine Haus begünstigte die langsame Veredelung dieses wilden Schößlings, der, man wußte nicht wo, herausgerissen und in den mystischen Boden des schmalen Gartens wieder eingepflanzt worden war; und dazu kam auch das geregelte Leben, das man dort führte, die tägliche Arbeit, die Weltfremdheit, in der man dort lebte, ohne daß auch nur ein Widerhall aus dem verschlafenen Stadtviertel hier hereindrang. Aber vor allem die Sanftmut erwuchs aus der großen Liebe der Huberts, die ein unheilbarer Selbstvorwurf gleichsam hatte an Umfang zunehmen lassen. Hubert verbrachte Tag um Tag mit dem Versuch, aus Hubertines Gedächtnis den Schimpf zu löschen, den er ihr angetan, als er sie gegen den Willen ihrer Mutter heiratete. Er hatte beim Tode ihres Kindes deutlich gefühlt, daß sie ihm die Schuld an dieser Strafe gab, und er bemühte sich, Verzeihung zu erlangen. Seit langem hatte sie ihm verziehen, betete sie ihn an. Er zweifelte zuweilen daran, dieser Zweifel verhärmte sein Leben. Um sicher zu sein, daß sich die Tote, die starrsinnige Mutter, unter der Erde hatte umstimmen lassen, hätte er gern noch ein Kind gehabt. Beider einziger Wunsch war dieses Kind der Vergebung, er lebte zu den Füßen seiner Frau in abgöttischer Liebe in einer jener ehelichen Leidenschaften, die glühend und keusch wie ein immerwährender Brautstand sind. So küßte er sie in Gegenwart des Lehrmädchens nicht einmal aufs Haar, nach zwanzig Ehejahren betrat er das gemeinsame Schlafzimmer nur verwirrt und erregt wie ein Jungvermählter am Hochzeitsabend. Verschwiegen war dieses Schlafzimmer mit seiner weißen und grauen Malerei, seiner blaugeblümten Tapete, seinen mit Kretonne bezogenen Nußbaummöbeln. Niemals drang ein Geräusch nach draußen, doch es roch so gut nach zärtlicher Liebe, es erfüllte das ganze Haus mit lauer Wärme. Und von liebevoller Zuneigung gleichsam umspült, wuchs Angélique in großer Leidenschaftlichkeit und großer Reinheit auf.
    Ein Buch vollendete das Werk. Als sie eines Morgens herumstöberte und auf einem staubbedeckten Regal der Werkstatt wühlte, entdeckte sie zwischen nicht mehr gebrauchten Stickerei Werkzeugen ein sehr altes Exemplar der »Legenda aurea«15 von Jacobus a Varagine. Diese aus dem Jahre 1549 stammende französische Übersetzung war sicherlich einst von irgendeinem Meßgewandmachermeister wegen der Bilder gekauft worden, die voller nützlicher Hinweise über die Heiligen waren. Lange Zeit interessierte sie selbst sich fast nur für diese Bilder, diese kindlich gläubigen alten Holzschnitte, die sie entzückten. Sowie man ihr erlaubte zu spielen, nahm sie den in gelbes Kalbsleder gebundenen Quartband und durchblätterte ihn langsam: zuerst kam der Schmutztitel, in Rot und Schwarz, mit der Anschrift des Buchhändlers, »Zu Paris, in der Rue Neufve NostreDame, im Hause ›Zum Heiligen Johannes dem Täufer‹«, dann der Titel mit den Rundbildern der vier Evangelisten zu beiden Seiten, unten durch die Anbetung der Heiligen Drei Könige, oben durch den Triumph Jesu Christi, der seinen Fuß auf Totengebeine setzt, umrahmt. Und darauf folgte Bild auf Bild, verzierte
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