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Der Traum

Der Traum

Titel: Der Traum
Autoren: Emile Zola
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auf, der sich geräuschlos wieder schloß, die Läden des Goldschmieds und des Wachshändlers gegenüber, in denen die heiligen Ziborien und die dicken Wachskerzen aufgereiht standen, wirkten immer leer. Und der klösterliche Friede, der in ganz Beaumontl˜Eglise herrschte, in der Rue Magloire hinter dem Bischofspalast, in der Grand˜Rue, in welche die Rue des Orfèvres mündete, auf dem Place du Cloître, wo die zwei Türme sich emporrecken, war in der schläfrigen Luft zu spüren, sank langsam mit dem bleichen Tageslicht auf die menschenleere Straße nieder.
    Hubertine hatte es übernommen, Angéliques Bildung zu vervollständigen. Im übrigen vertrat sie die alte Meinung, daß eine Frau genug wisse, wenn sie richtig schreiben könne und die vier Grundrechnungsarten beherrsche. Doch sie hatte gegen den Widerwillen des Kindes zu kämpfen, das unaufmerksam war und aus dem Fenster guckte, obgleich das ein mittelmäßiges Vergnügen war, da dieses Fenster auf den Garten hinausging. Angélique begeisterte sich fast nur fürs Lesen; trotz der Diktate, die einer klassischen Textauswahl entnommen wurden, gelang es ihr nie, auch nur eine Seite einwandfrei zu schreiben; und doch hatte sie eine hübsche Schrift, eine schlanke und sichere Schrift, eine jener eigenwilligen Handschriften der großen Damen von einst. In den übrigen Fächern, Geographie, Geschichte, Rechnen, blieb sie völlig unwissend. Was sollte schon das Wissen? Es war ganz überflüssig. Später, als sie vor der Erstkommunion stand, lernte sie Wort für Wort ihren Katechismus in einem solchen Glaubenseifer auswendig, daß sie die Leute ob der Sicherheit ihres Gedächtnisses in Verwunderung setzte.
    Im ersten Jahr waren die Huberts trotz ihrer Sanftmut oft verzweifelt. Angélique, die eine sehr geschickte Stickerin zu werden versprach, brachte sie durch plötzliche Launen, durch unerklärliche Anwandlungen von Trägheit nach Tagen vorbildlichen Fleißes aus der Fassung. Sie wurde plötzlich gleichgültig, tückisch, stahl Zucker und hatte dunkel umränderte Augen in ihrem roten Gesicht; und wenn man sie schalt, gab sie patzige Antworten. An manchen Tagen bekam sie, sobald man sie bändigen wollte, gar Anfälle von hochfahrender Tollheit, sie wurde steif, schlug mit Händen und Füßen um sich und war drauf und dran, zu beißen und alles zu zerreißen. Angstvoll wichen sie dann vor diesem kleinen Ungeheuer zurück, sie erschraken vor dem Teufel, der in ihr tobte. Wer war sie denn? Woher kam sie? Diese Findelkinder entstammen fast immer dem Laster und dem Verbrechen. Zweimal schon hatten sie beschlossen, das Kind der Jugendfürsorge zurückzugeben, so untröstlich waren sie und so sehr bedauerten sie, es überhaupt aufgenommen zu haben. Doch jedesmal endeten diese schrecklichen Auftritte, von denen das Haus noch hinterher zitterte, mit der gleichen Tränenflut, dem gleichen überspannten Reueausbruch, der das Kind in einer solchen Gier nach Züchtigung auf den Fußboden niederwarf, daß man ihm wohl verzeihen mußte.
    Nach und nach gewann Hubertine Einfluß auf sie. Sie war mit der Einfalt ihrer Seele, ihrem starken und zugleich sanften, großherzigen Wesen, ihrer gesunden Vernunft, in ihrer vollkommenen Ausgewogenheit für diese Erziehung wie geschaffen. Sie lehrte sie den Verzicht und den Gehorsam, die beide sie der Leidenschaft und dem Stolz gegenüberstellte. Gehorchen, darauf kam es an im Leben. Man mußte Gott, den Eltern, den Vorgesetzten gehorchen, eine ganze Hierarchie der Ehrerbietung, außerhalb davon geriet das Leben aus der Bahn und nahm ein schlimmes Ende. Daher auch erlegte sie ihr, um sie Demut zu lehren, bei jeder Auflehnung als Buße irgendeine niedere Arbeit auf, das Geschirr abzuwaschen, die Küche zu wischen; und sie blieb bis zum Schluß dabei stehen, ließ Angélique über die Fliesen gebeugt arbeiten, die zuerst wütend war, sich aber schließlich besiegt gab. An diesem Kind beunruhigte sie vor allem die Leidenschaft, das Feuer und die Heftigkeit seiner Liebkosungen. Mehrmals hatte sie sie dabei überrascht, wie Angélique sich selbst die Hände küßte. Sie sah, wie Bilder sie geradezu in Fieber versetzten, kleine Kupferstiche von Heiligen, Jesusbildchen, die sie sammelte; dann fand sie sie eines Abends in Tränen aufgelöst, ohnmächtig, mit auf den Tisch gesunkenem Kopf, auf die Bilder gepreßtem Mund. Als sie ihr diese Bilder wegnahm, gab es wieder einen fürchterlichen Auftritt, Schreie, Tränen, als risse man ihr die Haut vom Leibe.
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